© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Eine souveräne Weltmacht
Rußland: Putins Außenpolitik will der der monopolaren "neuen Weltordnung" der USA die Konturen einer resolut multipolaren Welt entgegensetzen
Alain de Benoist

Schon seit längerem gab es Spekulationen darüber, wie Wladimir Putin seinen Machterhalt bewerkstelligen würde, denn die russische Verfassung läßt nicht zu, daß der 55jährige sich im kommenden Jahr erneut als Präsidentschaftskandidat zur Wahl stellt. Nun ist das Geheimnis offiziell gelüftet: Bei den Wahlen im März 2008 wird Putin sich für die Mehrheitspartei Einiges Rußland um das Amt des Ministerpräsidenten bewerben - eine Variante des Machterhalts, die der Rußland-Kenner Wolfgang Seiffert schon Anfang des Jahres den Lesern dieser Zeitung prophezeite (JF 7/07). Daß Putin gewählt wird, gilt als sicher, daß er weiterregieren wird wie bisher, ebenfalls. Welche Ziele aber verfolgt er dabei?

Innenpolitisch will Putin ein "starkes, modernes und international angesehenes Rußland" erstehen sehen. Zu diesem Zweck wird er die Autorität des Staates weiter stärken, die Korruption bekämpfen, die Macht der "Oligarchen" und der Mafia beschneiden. Keine leichte Aufgabe in einem Staat, in dem laut Angaben des offiziellen Kreml-Organs Rossijskaja Gaseta Schmiergeldzahlungen und veruntreute Staatsgelder jährlich ein Viertel des Staatshaushalts betragen.

Die wichtigsten Initiativen sind indes zweifellos im außenpolitischen Bereich zu erwarten. Nach dem Ende der Sowjetunion erlebten die Beziehungen zwischen Washington und Moskau zunächst eine Glanzzeit. Damals träumte man in den USA von einem "neuen amerikanischen Jahrhundert". Bereits Ende 1991 trafen amerikanische Berater im Rahmen einer von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) finanzierten "technischen Assistenz" in Moskau ein. Vor Ort fungierte erst Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, dann dessen in Rußland geborener Universitätskollege Andrei Shleifer und schließlich Bill Clintons späterer Finanzminister Lawrence Summers als "Dirigent" des US-Einflusses im postsowjetischen Rußland.

Gegenreaktion auf erneute Praktiken des Kalten Krieges

Sie verfolgten zwei Ziele: keine Wiederauferstehung der 1991 aufgelösten UdSSR und eine Integration Rußlands in die Weltordnung von amerikanischen Gnaden, um Washington völlige Handlungsfreiheit in der restlichen Welt zu sichern. Zu diesem Zweck zog die US-Regierung diskret die Strippen beim Ausbruch des Tschetschenien-Krieges 1994, nachdem sie drei Jahre zuvor eine gewisse Zurückhaltung angesichts der ersten Regungen einer ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung an den Tag gelegt hatte.

Die Tendenzwende erfolgte nach der weltweiten Finanzkrise von 1997/98, die zu einer Krise innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO) führte, sowie erst recht nach der militärischen Intervention im Irak 2003, bei der die US-Regierung sich nicht in der Lage zeigte, ihre Politik von der Staatengemeinschaft absegnen zu lassen. Seit 1999 hat das Verhältnis zwischen den USA und Rußland sich drastisch verschlechtert, je deutlicher die Achse Washington-London als Angelpunkt einer auf militärischer Macht beruhenden Politik (hard power) hervortrat.

Mit Hilfe von Maßnahmen, die dem neoliberalen Credo zuwiderlaufen (Rohstoff- und Schlüsselindustrien wurden wieder unter Staatseinfluß gestellt, ein Teil der "Oligarchen" entmachtet), konnte die Krise der russischen Wirtschaft überwunden werden. Indes wandten die USA gegenüber Putin die Praktiken des Kalten Krieges an, darunter am spektakulärsten die geplante Aufstellung amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und der Tschechei. Mittlerweile wird die Macht der USA in Rußland eindeutig als Bedrohung der eigenen Sicherheit sowie der der Verbündeten wahrgenommen. Der Gedanke eines vom Kreml aus gesteuerten, gegen die Washingtoner Politik gerichteten Bündnisses, einer "Abwehrfront", ist damit wieder in den Bereich des Möglichen gerückt.

Eine entscheidende Wende war im Juni 2001 die Gründung der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ/SCO) mit den Mitgliedsstaaten China, Rußland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan. Der Iran, Indien, Pakistan und die Mongolei haben seit 2004 bzw. 2005 Beobachterstatus bei der SOZ, deren Bedeutung in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hat. Über ihre ökonomischen und kommerziellen Aktivitäten hinaus verfolgt sie allem Anschein nach vorrangig das Ziel, China und Rußland eine stärkere Kontrolle über ihr Territorium zu ermöglichen und den Zugriff der USA auf Osteuropa und Zentralasien abzuwehren.

In diesem Rahmen wurden letztes Jahr zwischen Peking und Moskau umfangreiche Energieabkommen geschlossen. Zudem entstand eine beispiellose militärische Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten. Mit der SOZ (wo übrigens nur Chinesisch und Russisch Arbeitssprachen sind) hat sich inzwischen ein neuer Pol der globalen Sicherheit gebildet, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte und der in den kommenden Jahren nur an Stärke gewinnen kann. Dies gilt erst recht, wenn Indien und Iran als Vollmitglieder aufgenommen würden.

Gefahr für die amerikanische Vormachtstellung in Eurasien

Die Amerikaner nehmen die Aktivitäten der SOZ mit sichtlichem Unbehagen zur Kenntnis. Tatsächlich scheint die "Schanghai-Gruppe" geradezu prädestiniert, jenes chinesisch-russische Bündnis zu verwirklichen, vor dem die graue Eminenz unter den US-Globalstrategen, der in Warschau geborene Zbigniew Brzeziński, in seinem 1997 erschienenen Buch "Die einzige Weltmacht" als Gefahr für die amerikanische Vormachtstellung in Eurasien warnte.

Die berühmte Rede, die Putin am 11. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz hielt (JF 09/07), ist insofern programmatisch zu lesen. Zwei wesentliche Punkte stechen hervor: die Ablehnung einer "unipolaren" Welt und die Verurteilung der zunehmenden Bereitschaft der USA, völkerrechtswidrig im Ausland zu intervenieren. Angesichts der globalen Hegemoniebestrebungen der USA erwies sich der russische Präsident als guter Schüler Carl Schmitts (dem zufolge die politische Welt unvermeidlich ein "Pluriversum" ist) und setzte der monopolaren "neuen Weltordnung" (ein Modell, das "für die heutige Welt nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich" sei) die Konturen einer resolut multipolaren Welt entgegen. Damit erklärte er der These von einer Entpolitisierung der internationalen Beziehungen, die sich dann auf "Menschenrechte" und wirtschaftliche "Gesetze" beschränken würden, eine unmißverständliche Absage.

Seither hat Putin immer wiederholt, die einzig mögliche gemeinsame Rechtsordnung sei diejenige, die die Souveränität des anderen respektiere: Koordination statt Subordination. Daher rührt auch die Bedeutung des von Putins Chefideologen, dem stellvertretenden Leiter der russischen Präsidialverwaltung Wladislaw Surkow, geprägten Begriffs "souveräne Demokratie", in dem sich politische und wirtschaftliche Souveränität eng miteinander verbinden. Aus ebendiesem Grund beglich Rußland 2005 als erster Staat vorfristig seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF), um sich aus der Bevormundung durch die Organisation zu befreien.

Am 14. September sagte Putin auf einer Pressekonferenz in Sotschi am Schwarzen Meer einige aufschlußreiche Sätze: "Es gibt heute nicht mehr viele Staaten auf der Welt, die noch souverän sind. Man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen." Als herausragender Stratege und kühl kalkulierender Kopf, der er ist, weiß Putin genau, was Souveränität bedeutet. Europa gibt er damit die Chance, mitanzusehen, wie Rußland für eine "multipolare" Welt kämpft, zu deren Verteidigung ihm selber der Wille und der Mut fehlt.

 

Stichwort: Wladimir Wladimirowitsch Putin 1952 in Leningrad geboren, war bis 1990 als KGB-Offizier in der Auslandsspionage tätig. 1991 trat er in die Verwaltung des Sankt Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak ein, 1994 wurde er dessen Vize. 1996 wurde er Vizechef der Kreml-Liegenschaftsverwaltung, 1997 stellvertretender Kanzleileiter von Präsident Boris Jelzin und 1998 Vizechef der Präsidialverwaltung. Von Juli 1998 bis August 1999 war er Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, danach bis zum Rücktritt Jelzins russischer Ministerpräsident. 2000 und 2004 wurde er in Direktwahl zum russischen Präsidenten gewählt.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften "Nouvelle Ecole" und "Krisis".


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