© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Verfehlte Politik
"Gefühlsstau": Warum sich Gewaltausbrüche in Mitteldeutschland nicht mit dem Begriff der Ausländerfeindlichkeit erklären lassen
Thorsten Hinz

Wer die periodischen Hysterieschübe wie die Pressekampagne um die Auseinandersetzungen am Rande eines Stadtfestes im sächsischen Mügeln (JF 36/07) als gänzlich Ahnungsloser erlebt und deshalb an ihre sachliche Berechtigung glaubt, der müßte zwei Eindrücke gewinnen: Deutschlands drängendstes Problem ist seine "Ausländerfeindlichkeit", und das vor allem wegen der östlichen Bundesländer. Deren hauptsächliche Schwierigkeit bestünde darin, sich zum geistig-moralischen Weststandard noch nicht emporgearbeitet zu haben. Die Konflikte wären somit keine politischen, sondern lediglich eine Frage der richtigen Psycho- und Sozialtherapie. Daher auch die reflexhafte Forderung, die Mittel "gegen Rechts" aufzustocken, um das Ost-Bewußtsein zu verändern.

Zum ersten Punkt nur eine kurze Anmerkung: Der Begriff "Ausländerfeindlichkeit" wird nahezu beliebig verwandt. Wenigstens müßte unterschieden werden, ob es sich um eine prinzipielle Feindschaft gegen Ausländer (dann wäre besagter Begriff angebracht), um Schlußfolgerungen aus eigenen Erfahrungen oder um die Ablehnung einer konkreten Ausländerpolitik handelt, die zu Fremdheit und Entheimatung im eigenen Land führt. Politisch sauber zu argumentieren, hieße auch, Klarheit über die Kosten zu schaffen. Doch nicht einmal dieses Minimum wird erfüllt. Der Vorwurf der "Ausländerfeindlichkeit" ist ganz überwiegend ein propagandistischer Trick, um Kritik an einer verfehlten Politik zu ersticken.

Es ist unbestreitbar, daß in mitteldeutschen Regionen Menschen, die als abweichend empfunden werden, auf massive Ablehnung stoßen können. Wer irgendwie anders daherkommt: südländisch, apart, tuntig, feingeistig-intellektuell, künstlerisch-exaltiert, behindert oder sehr westdeutsch, kann Schwierigkeiten bekommen. Der brutale Überfall auf eine Theatertruppe vor einigen Wochen in Halberstadt betraf Deutsche. Mit Ausländer- beziehungsweise Fremdenfeindlichkeit ist das nicht erklärt, mit einer verengten Vorstellung von der sozialen und kulturellen Norm schon eher. Große und mittlere Städte, kleinstädtische und ländliche Räume wären freilich zu unterscheiden, wie anderswo auch. Über die Gründe ist schon viel gesagt worden: der wirtschaftliche Niedergang, die soziale Abkoppelung ganzer Regionen (beides wohl irreversibel), die Abwanderung der tüchtigeren Bevölkerungsteile, vor allem der jungen Frauen. Letzteres führt zu einem Überschuß an Männern, die sich nun doppelt als Verlierer fühlen, die sich von Ideologiefetzen moralische Kompensation erhoffen, zur Flasche greifen und aggressiv werden.

Nachwirkende Prägungen aus DDR-Zeiten

Aber auch nachwirkende Prägungen beziehungsweise Verletzungen aus DDR-Zeiten spielen eine Rolle. Diese wurden von dem Psychiater Hans-Joachim Maaz, der in der DDR als Chefarzt eines kirchlichen Krankenhauses gearbeitet hatte, 1990 in "Der Gefühlsstau" mit gnadenloser Schärfe beschrieben. Die DDR war ein umfassendes repressives System, das die Menschen zwang, den vorgezeichneten, den "richtigen" Weg einzuschlagen und zu verinnerlichen. Außenseiter wurden durch die Justiz, die Medizin oder durch die Kirche (welche die Repression intern reproduzierte) entsorgt. Gegenwehr erfolgte überwiegend durch "trotzige Verweigerung, Hilflosigkeit und Abhängigkeit", was tatsächlich zur Blockade und Auszehrung des Systems führte. Doch sie machte diejenigen, die sie praktizierten, infantil und engherzig. Außenseiter oder Aussteiger, die sich von der sozialistischen Gesellschaft konsequent abwandten, waren ihnen ebenso verdächtig wie politische Widerständler, denn sie erinnerten sie an ihre Angepaßtheit und widerlegten "einen weitverbreiteten Mythos in der DDR: Man könne doch nichts ändern, es habe alles keinen Zweck, man müsse eben mitmachen", so Maaz.

Die verinnerlichte Versorgungsmentalität und zwanghafte Einengung hätten durch einen politischen und psychischen Reifeprozeß zugunsten von Selbstbewußtsein, Eigenständigkeit, Großzügigkeit überwunden werden müssen. Dazu hätten die Deformierungen, der Zorn und die Trauer realisiert, die Schuldigen benannt und bestraft, der Gefühlsstau aufgehoben werden müssen. Dafür gab es im Herbst 1989 spannende Ansätze. Von der Intensität und Ernsthaftigkeit der Diskussionen damals kann man heute nur träumen, es wurde mit neuen politischen Strukturen experimentiert. Doch es fehlte an charismatischen Wortführern mit klaren Konzepten, auch war die Zeit viel zu kurz. De facto beendete bereits der Mauerfall die Phase der Selbstfindung, die DDR-Bürger vertrauten sich danach rasch den politischen und Medienautoritäten der Bundesrepublik an. Realpolitisch war wohl nichts anderes möglich, doch der Gefühlsstau wurde dadurch verschlimmert.

"Haßkalte Fressen von Jünglingen"

Das Problem wird in der Regel ausgespart, weil es die Frage nach den Grundlagen und der Berechtigung der westdeutschen Politik und Begrifflichkeit aufwirft. Das zeigt auch Frank Pergandes Leitartikel "Mügeln und der Rest der Welt" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. August. Seine Lektüre ist doppelt lohnend, weil er sich um ein Verständnis für tiefere Zusammenhänge bemüht und sie in symptomatischer Weise verfehlt. Zunächst kritisiert Pergande den Ablauf der Medienkampagnen, um dann als Kernfrage zu formulieren, ob es "Urteil oder Vorurteil" sei, wenn die neuen Länder als "verkommene Gegend" beschrieben würden, "in der Ausländerhatz und Rechtsradikalismus zum Alltag gehörten". Auf die "Zumutung der Welt", so Pergande, antworteten die Mitteldeutschen wie einst in der DDR mit "Abschottung", was ihr Dilemma verschlimmere, "sich in der gesamtdeutschen, in der globalisierten Welt, eben in der Freiheit nicht zurechtzufinden". Sie fühlten sich "abgewickelt, diskriminiert, überrollt, bevormundet" und zögen sich deswegen auf DDR-Rituale zurück. Ihr Hauptproblem sei "der seelische Defekt, das Minderwertigkeitsgefühl in allen seinen Verirrungen, den Rechtsextremismus eingeschlossen".

Selbst wenn man (nämlich im Anschluß an Maaz) dieser Einschätzung zustimmte - ihre Herleitung und Begründung durch den FAZ-Autor ist oberflächlich und arrogant. Der "seelische Defekt" liegt für ihn in der Verweigerung gegenüber einer absolut gesetzten West-Perspektive. Der Verfasser erklärt die Zumutungen des westdeutschen Politik- und Medienbetriebs an die Mitteldeutschen kurzerhand mit denen der "Welt" (als Chiffre der objektiven Wahrheit?) und "der Freiheit" (als Chiffre einer transzendenten Instanz?) identisch. Könnte es nicht sein, daß sie gleichfalls viel falsches Bewußtsein, egoistische Interessen, ideologische Versatzstücke transportieren, daß sie genauso brüchig beziehungsweise defekt sind wie die DDR-Nostalgie und auch deswegen - berechtigte - Aversionen hervorrufen? Der FAZ-Autor (obwohl selber aus der DDR) redet über die Mitteldeutschen in einer Meta-Sprache wie ein Kolonisator über Eingeborene.

Er erreicht deshalb nicht annähernd die Tiefenschärfe, die dem Schriftsteller Volker Braun bereits 1991 in seinem kurzen Text "Die Leute von Hoywoy" gelang. Er war anläßlich der Ausschreitungen vor einem Asylbewerberheim in der sächsischen Arbeiterstadt Hoyerswerda im September 1991 entstanden. Abgedruckt wurde er in der Wochenpost, einst die populärste Zeitung der DDR. Braun sah in Hoyerswerda "haßkalte Fressen von Jünglingen und die satten Gesichter Erwachsener, die aus ihren Wagenburgen Beifall grinsten. Was für eine Rasse, fragte ich mich, hatte sich hier eingenistet, in den banalen Neubauten, auf den rohen Maschinen. Was hatte sich ausgebildet in dem faulen Frieden, in der Langeweile des Staats." Deutlicher läßt es sich nicht sagen.

Aber für Braun ist das eben nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte beginnt mit der Wiedervereinigung. "Es war ihnen, den Erbauern von einst, den berühmten Leuten, etwas zugestoßen. Man war mit ihnen umgesprungen, wie kein Polier, kein Polizist es einst gewagt hatte." Eine "Naturgewalt" sei über sie hereingebrochen, "die das Gelände entseelte und die Betriebe verödete. Die sie enteignete ihres unbestimmten Besitzes, ihrer Sicherheit. (...) Wer waren sie nun. Ihre Blicke, ihre Rechnungen sagten: verächtliche Wesen. Das hatte man aus ihnen gemacht. - Und nun zeigten sie ihre Kraft, den Schwächeren, und erwiderten sie die Gewalt, die sie erfuhren auf einen Schlag." Aber was ist schon die kleine Wochenpost - die es längst nicht mehr gibt - gegen die FAZ, die "Zeitung für Deutschland"?

Der Westen übertrug eine umstrittene Politik

Zurück zur "Ausländerfeindlichkeit": Schon aus psychologischen Gründen war es unverantwortlich und heller Wahnsinn, diesem Hexenkessel sozialen Stresses überfallartig die bundesdeutsche Asyl- und Ausländerpolitik zuzumuten. Man ließ den Menschen überhaupt nicht die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen, ihre Interessen und Argumente zu formulieren und ihnen auf Bundesebene Gehör zu verschaffen. Der Westen übertrug eine Politik, die längst höchst umstritten war, wie ein Kolonialherr auf seine neuen Territorien. Daß 95 Prozent der nötigen Veränderungsleistungen von ihnen zu erbringen waren, hätten die Hinterbliebenen eines gescheiterten Systems hingenommen, aber daß man ihnen mit dem Recht des Siegers auch evidente Fehlentwicklungen als Ausweis höherer Moral aufzwingen wollte, war der Demütigung zuviel.

Die Begriffe Ausländerfeindlichkeit und -freundlichkeit sind, wie gesagt, weitgehend inhaltsleer, es sind Kampfbegriffe einer humanitaristischen Ideologie. Diese kam und kommt autoritär und einschüchternd daher wie die SED-Propaganda. Der Text ist zwar neu, doch die Weise kennt der Ost-Esel nur zu gut. Er blieb bei seiner "störrischen Verweigerung" und schlug, da die Bundesrepublik weniger repressiv war als die DDR, sogar mit den Hinterbeinen aus.

Die Zeiten, da der Westen auf den östlichen Erziehungspatienten überwältigend wirkte, sind ohnehin vorbei. Welche Ausländerpolitik in welcher westdeutschen Stadt könnte für Mitteldeutschland erstrebenswert sein? Soll es in Mügeln werden wie in Berlin-Neukölln? Wer weiß, so könnten Mitteldeutsche sich fragen, ob die "Wessis" in ihren unwirtlicher werdenden Städten nicht bald schon froh sind, daß es im Osten ein paar Refugien gibt. Schon heute zieht es zahlreiche westdeutsche Pensionäre ins niederschlesische Görlitz.

Im übrigen ist die Frage, wieweit sich der Osten verwestlichen muß, eine anachronistische. Die wirklich entscheidende Frage lautet, was nach dem Westen kommt und wie man darin (über-)leben soll. Die Ossis ahnen wohl, daß sie sich mit ihrer kopflosen Einheitseuphorie von 1989/90 in die Situation der Genueser Seeleute begeben haben, die sich 1453 auf einer kleinen Brigantine und unter allgemeinem Jubel in den Hafen des belagerten Byzanz durchschlugen - zu dem einzigen Zweck, mit der Stadt den Untergang zu teilen. Im Unterschied zu den Ossis wußten die Briganten allerdings von Anfang an, worauf sie sich einließen.


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