© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/07 12. Oktober 2007

Auf verlorenem Posten
SPD-Streit: Die Forderung nach "sozialer Gerechtigkeit" ist verlogen
Bernd-Thomas Ramb

Die Rechnung ist grob und einfach, das Ergebnis offensichtlich nicht für jedermann leicht zu verdauen. Wer 30 Jahre ununterbrochen seine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet, hat bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von 5 Prozent nach 360 Beitragsmonaten 18 Gehaltsmonate angesammelt. Wer nach den derzeitigen Regeln nach 30 Beitragsjahren arbeitslos wird und älter als 55 Jahre ist, erhält 15 Monate Lohn­ersatzleistung (ALG I). Keine schlechte persönliche Bilanz für eine staatliche Versicherung auf Umverteilungsbasis. Zudem richtet sich die Lohnersatzleistung nach dem aktuellen Lohnniveau, die früheren Einzahlungen werden praktisch verzinst, und die drei fehlenden Zahlungsmonate finanzieren preiswert das Risiko, früher arbeitslos zu werden.

Andere staatlich erzwungene Sozialversicherungen, allen voran die Rentenversicherung, bilanzieren deutlich ungünstiger. Dennoch hat es der nicht an der Regierung beteiligte SPD-Vorsitzende Kurt Beck für notwendig erachtet, von der amtierenden Union-SPD-Regierung eine Änderung der bestehenden ALG-I-Regel zugunsten der älteren Arbeitslosen zu fordern. Die Mehrkosten, die Beck optimistisch auf 800 Millionen herunterrechnet, will er aus dem aktuellen Überschuß der Bundesagentur für Arbeit finanzieren. SPD-Vizekanzler und Bundesarbeitsminister Franz Müntefering lehnt den Vorschlag seines Parteigenossen strikt ab. Er will vor allem die koalitionsintern vereinbarte Regelung einhalten, keine langfristig verbindlichen Mehrausgaben zu beschließen. An eine "Gegenfinanzierung" durch Leistungskürzungen bei den jüngeren oder erst kurze Zeit Beitragspflichtigen wagt sich aber niemand.

Wie häufig steckt hinter der Kontroverse zwischen den SPD-Granden eine vielschichtige Problematik und nicht nur die Frage einer Nachbesserung für ältere Arbeitslose. Da ist zunächst die parteiintern schwierige Situation Becks zu nennen. Die Umfragewerte der SPD gehen in den Keller, die Konkurrenzpartei Die Linke wirbt Mitglieder und Stimmen ab, und das unverwechselbar Sozialdemokratische entschwindet aus der öffentlichen Wahrnehmung. Hier erhält die SPD die Quittung für ihren linken Kurs der letzten vierzig Jahre. Trotz ihrer personellen und ideologischen Wurzeln, die in der menschenverachtenden DDR-Diktatur gründen, wird die Linkspartei von den Medien hofiert und als politisch korrekte Partei eingestuft. Um dagegen Kontur zu gewinnen, muß sich die SPD nach rechts absetzen - und gerät damit in die jahrzehntelang selbsterrichteten Fallgruben.

Dabei wäre eine rechte, nahezu konservative SPD keine Phantasiefigur. Von Kurt Schumacher bis Holger Börner gibt es zahlreiche Beispiele, in denen rechte SPD-Genossen sogar Spitzenämter einnahmen. Verbliebene Vertreter dieser Spezies, wie der langjährige Bundesminister Hans Apel und der ehemalige nordrhein-westfälische Sozialminister und Fraktionsvorsitzende Friedhelm Farthmann, sind alt und ins politische Abseits verdrängt. Andererseits sind die konservativen SPD-Wähler die treuesten und eben gerade unter denen zu finden, die nach 30 Beitragsjahren und älter als 55 ihren Arbeitsplatz verlieren. Die SPD-Treue dieser Jahrgänge ist durch die Verschiebung des Rentenalters bereits zum Zerreißen gespannt. Ihnen spricht die Becksche Forderung möglicherweise aus dem Herzen.

Aber auch Müntefering ließe sich durch sein Festhalten an Koalitionsvereinbarungen und seine Weigerung, neue Sozialausgaben ohne dauerhaftes Finanzierungsfundament zu beschließen, zu den konservativen Sozialdemokraten rechnen. Der Vorschlag, den Älteren mehr und dafür den jüngeren weniger zu zahlen, auf jeden Fall keine neuen Schulden aufzutürmen, trifft den konservativen sozialdemokratischen Nerv. Müntefering aber kämpft auf verlorenem Posten. Beck will die Alten halten und gleichzeitig die Jungen nicht verprellen, er kämpft um jede Stimme. Wähler- und Parteitagsstimmen gewinnt man heutzutage nicht mit hehrer Programmatik, sondern mit materiellen Umverteilungsversprechen, in diesem Falle höhere Sozialleistungen ohne Kürzungsgefahr, möglichst bei sinkenden Beitragslasten. Die formale Begründung ist das bewährte linke Keulenargument: soziale Gerechtigkeit.

Daß mit dieser ebenso schlichten wie verlogenen Forderung immer sicherer Wahlen und Parteitage entschieden werden, hat offensichtlich auch zunehmend Unionspolitiker überzeugt. Anders läßt es sich nicht erklären, warum der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller und der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein auf den Beckschen Zug aufspringen und seine Forderungen unterstützen. Konservative Positionen werden nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei den Unionsparteien preisgegeben. Sie gelten als "dem Wähler nicht vermittelbar" und damit als Gefahr für den Wahlsieg.

Die Ultima ratio moderner Politik heißt dementsprechend durch alle Parteien hindurch: Verschenke an die Lebenden (die dich wählen) und belaste durch neue Schulden die nachfolgenden Generationen (auf deren Stimmen du nicht angewiesen bist). Da fehlt nicht nur konservatives Denken, sondern jede ethisch-moralische Grundlage gegenwärtiger Wirtschafts- und Sozialpolitik - den kommenden Generationen wird keine "soziale Gerechtigkeit" zugebilligt.


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