© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/07 05. Oktober 2007

Sputnik zementierte die Teilung
Die Erdumkreisung des ersten sowjetischen Satelliten hatte handfeste politische Konsequenzen in der Deutschlandpolitik
Thorsten Hinz

Die sechzig Zentimeter große, 84 Kilo schwere Metallkugel, die am 4. Oktober 1957 mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometer durchs Weltall raste, war irdischer, genauer: sowjetischer Herkunft. "Sputnik 1" war eine technische Pioniertat, die so gut gelang, daß sie ein politisches Erdbeben auslöste. Am 15. Mai bereits hatte die Sowjetunion ihre erste Interkontinentalrakete gezündet; nun schickte sie sich an, den Weltraum in Beschlag zu nehmen. Militärisch konnte sie jeden beliebigen Punkt in den USA erreichen. Die atomare Drohung, mit der die Amerikaner die konventionelle Überlegenheit Moskaus ausgeglichen hatten, fiel nun auf sie selber zurück.

Konrad Adenauer behauptete in seinen Memoiren, er habe die russische Raumsonde "fast wie eine Art Himmelsgeschenk" empfunden, weil sie "die gesamte freie Welt wie durch einen Schock wachgerüttelt" hatte. In Wahrheit schwante ihm, daß die Schockwirkung von ganz anderer Art war. Zehn Tage später empfing er einen Leitartikler der New York Times, der in Moskau mit Parteichef Nikita Chruschtschow zusammengetroffen war. Von ihm erfuhr er, daß die Russen mit ihren Machtdemonstrationen die USA zu bilateralen Verhandlungen zwingen und sich ihren Besitzstand verbriefen lassen wollten. Adenauer war deprimiert. Der einzige US-Politiker, dem er solche Verhandlungen zutraute, war Außenminister John Foster Dulles, doch der litt an Krebs. Der Nutzen derartiger Gespräche, sagte der Kanzler, könne nicht größer sein als der Schaden, den sie anrichteten. Der Westen würde sie als Signal verstehen, daß Russen und Amerikaner die Welt unter sich aufteilen wollten. Was er für sich behielt: Roosevelts Plan einer von den vier Großmächten (USA, Rußland, das Empire und China) gestellten Weltpolizei würde damit in verschärfter Form wiederauferstehen und das geteilte Deutschland das erste Opfer sein.

Die Bundesrepublik hatte sich durch ihre Sonderbeziehungen zu den USA einigen Spielraum zurückerobert. Um Westeuropa militärisch zu sichern, wurde Westdeutschland als Bollwerk gebraucht, was Adenauer sich durch die Rückerstattung von Souveränitätsrechten vergüten ließ. Doch in dem Maß, wie die Atom- und Raketentechnik die konventionelle Rüstung überwog, verlor Westdeutschland für die USA an Bedeutung. Der Sputnik-Start markierte den Beginn einer neuen, dramatischen Phase der Welt- und Deutschlandpolitik, die mit dem Mauerbau 1961 vorläufig endete.

Am 27. November 1958 forderte Chruschtschow in seinem Berlin-Ultimatum die Umwandlung West-Berlins in eine Freie Stadt und den Abzug der Westalliierten. Nun zeigte sich, daß Adenauers Mißtrauen gegenüber den europäischen Verbündeten berechtigt war. Die Briten hatten ihre Unlust, den Verpflichtungen aus dem Deutschland-Vertrag von 1952/54 nachzukommen und die Wiedervereinigungspolitik zu unterstützen, nie verborgen gehalten. Im März 1959, noch während das Ultimatum schwebte, reiste Premierminister Harold Macmillan nach Moskau und gab unter dem Eindruck sowjetischer Stärke zu erkennen, daß Großbritannien den russischen Forderungen entgegenkommen wolle, obwohl das auf eine "fortdauernde Teilung Deutschlands" hinausliefe. Adenauer ahnte, was sich zusammenbraute, und zürnte im kleinen Kreis über das "perfide Albion", das einen "großen Haß" gegen Deutschland hege, den Rußland noch "systematisch" schüre.

Mit Frankreich sah es nur scheinbar besser aus. Der katholische Schriftsteller François Mauriac vertrat eine weitverbreitete Haltung, als er äußerte, das viele Böse, das aus Rußland komme, würde aufgewogen durch die unschätzbare Wohltat, die man ihm verdanke: "ein geteiltes Deutschland!" Der französische Präsident Charles de Gaulle, der seinerseits Adenauer als außenpolitischen Bündnispartner brauchte, wollte von einem Rückzug aus West-Berlin zwar nichts wissen, doch auch er nutzte die Gelegenheit, um an die traditionelle französisch-russische Freundschaft zu erinnern und am 25. März 1959 auf einer Pressekonferenz zu verkünden, es sei "die natürliche Bestimmung des deutschen Volkes", die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren. Dies war ein brutaler Affront gegen die Bundesregierung, die den Gebietsstand von 1937 als Ausgangspunkt von Friedensverhandlungen betrachtete - nicht weil sie glaubte, ihn wiederherstellen zu können, sondern um für den Verzicht darauf Gegenleistungen zu erhalten.

Das Beharren auf der Offenheit der deutschen Frage wurde auch für die USA immer mehr zum Störfaktor. Der beinharte Antikommunist Dulles gab im Februar 1959 Willy Brandt zu verstehen: "Wenn wir uns in hundert Fragen mit den Russen streiten, in der hundert­ersten sind wir mit ihnen einig: Ein neutrales, womöglich noch bewaffnetes Deutschland, das zwischen den Fronten hin und her marschieren kann, wird es nicht geben." Im September 1959 bekam Chruschtschow seinen USA-Besuch, die Amerikaner suchten die Entspannung.

Ein neutrales Deutschland wollte auch Adenauer nicht. Seine Strategie indes, durch die Verankerung im Westen sich dessen gesammelte Kraft zu leihen und mit ihr die Russen zur Herausgabe der DDR zu zwingen, war gescheitert. Auch zeigte sich, daß das antideutsche Machtkalkül, das der Anti-Hitler-Koalition zugrunde gelegen hatte, sogar im Kalten Krieg seine Wirksamkeit nie ganz verlor. Etwas anderes hätte das Eingeständnis der Westmächte vorausgesetzt, daß ihr Bündnis mit der Sowjetunion ein Fehler gewesen war. Dem alten Kanzler blieb nur das Spiel auf Zeit.

Die meisten Deutschen antworteten, so Caspar von Schrenck-Notzing, "mit einem panischen Ausbruch ins Irrationale. Eine Frage war gestellt, die Antwort überstieg die Kräfte, es blieb der Kopfsprung aus dem offenen Fenster, genannt 'Bewältigung der Vergangenheit'." Die von der Stasi veranlaßten antisemitischen Schmierereien, die von der Auslandspresse begierig aufgegriffen wurden, kamen dafür wie gerufen - als ein zweites Himmelsgeschenk! Boten sie doch die Gelegenheit, einem elementaren außenpolitischen Konflikt auszuweichen und ihn in die Sprache des Gesinnungsprotestantismus zu übersetzen: Wie naziverseucht muß dieses Deutschland immer noch sein, daß die Welt ihm seine Wiedervereinigung nicht gönnt.

Foto: Erläuterungen zum Sputnik in West-Berliner Sternwarte, November 1957: Geringere Rolle der Bundesrepublik als westliches Bollwerk


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