© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/07 05. Oktober 2007

Epochengemälde aus Sicht des Fin de siècle
Eine Neuauflage der spätmittelalterlichen Studien über Lebens- und Geistesformen des großen niederländischen Historikers Johan Huizinga
Wolfgang Saur

Das "Abendland" ist nicht verloren, solange Alfred Kröner publiziert. Seit 1904 bietet das Traditionshaus gediegene Wissenschaft, Handbücher, Lexika und kanonische Texte von Plato bis Nietzsche, stets unter dem Aspekt "klassischer" Qualität. Die Werke Jacob Burckhardts gehören seit je dazu. Auf ihrer Linie liegt auch das Hauptwerk des Niederländers Huizinga zum späten Mittelalter im französisch-burgundischen Bereich, das der Stuttgarter Verlag neu herausgibt.

Johan Huizinga (1872-1945), der in Groningen und Leiden lehrte, gehört zu den Meistern narrativer Geschichtsschreibung und farbiger Charakteristik, der humanistischen Kulturphilosophie und einfühlsamen Biographik. In Deutschland weit verbreitet waren früher seine Werke über Erasmus (1924), "Im Schatten von morgen" (1935), "Homo Ludens" (1938) und seine späte Sicht auf Hollands Goldenes Zeitalter. Wirklich prominent aber wurde sein mediävistisches Buch, das 1919 erschien und - nach zunächst kritischer Aufnahme - eine intensive Wirkung entfaltet hat. Begonnen hatte Huizinga einst mit indischen Studien, stark beeindruckte ihn Edward Tylors bahnbrechende Arbeit zur Primitivkultur (1871). Dessen Perspektive habe ihn inspiriert. Was Huizingas weit gespannten Interessenbogen belegt, den nun das vorliegende Werk auch intern reflektiert.

22 umfangreiche Kapitel zeichnen ein farbenprächtig vielschichtiges und doch einheitliches Tableau des 15. Jahrhunderts, primär der extravaganten Hofkultur, ergänzt durch breite Darstellungen zur Frömmigkeit, Literatur und Kunst. Huizingas ästhetischer Ansatz identifiziert eine Fülle von Lebensformen, die sich seiner subtilen Hermeneutik erschließen. Als wesentlich benennt er: die Intensität und Spannung der Zeit, ihre Pracht, den Gestaltreichtum samt seiner Architektonik. Gleich der Beginn setzt die These, daß "alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen" zeigten als heute und eine "allgemeine Leidenschaftlichkeit, die überall das Leben durchglühte". Erkennbar wird eine Polarität, die Aspekte wie Leid/Freude oder Krankheit/Gesundheit grell nebeneinander stellt. Besonders faszinierten ihn die "düstere Grundstimmung", der "barbarische Prunk" und die "bizarren und überladenen Formen", die in einer "fadenscheinig gewordenen Phantasie" auslaufen. Dies deutet auf Huizinga als Zeitgenossen des Fin de siècle, dem sich auch die "ungewöhnliche assoziative Eindrucks- und Anregungskraft" (Guggisberg) seines Buches verdankt.

Diese Kulturgeschichte interessiert sich für kulturelle Muster und symbolische Formen. Der Autor gewinnt sie aus Chroniken, der Literatur und Kunstbetrachtung. Sie verdichten sich zu komplexen Einheiten: dem Ritterkomplex, der Liebesanschauung, den religiösen Typen, der Kunst und Poesie. Die Volkskultur hingegen bleibt randständig. Die Renaissance sieht er vielfach schon angelegt im frühen Mittelalter, anderes, die Hofkultur etwa, mit ihrer Entwicklung des Zeremoniells, weist voraus zum Absolutismus. So werden Epochengrenzen verschleift, eine "lange Dauer" statt schroffer Zäsuren favorisiert. Das akzentuiert die Statik des Querschnitts als "Epochengemälde". Es schöpft aus der Erzählfreude Huizingas, dem Drang zum farbigen Detail, zum breiten Zitat, zur Schilderung des Konkreten. So, wenn Heinrich Seuse seinen Apfel drittelt im Zeichen der Trinität.

Analytisch hingegen verfahren die Abschnitte zum Symbolismus und Ideenrealismus. Sie sind entscheidend, schreiben sie doch mit Kosmologie, Ästhetik und Anthropologie dem Werk einen festen Horizont ein, der das Mittelalter als Ordnung und Weltbild architektonisch begreifen lehrt. Literarisch wird so der etwas impressionistische Diskurs anderer Texte konterkariert. Zentral dabei der Neuplatonismus, der hier nicht nur thematisiert, sondern methodisch adaptiert ist.

Stark beschäftigt den Autor der "typologische" Grundzug der Epoche: Erfahrungen auf ein Prinzip, ein ursprüngliches Muster, einen tieferen Sinn zu beziehen. Dem diente die Bildersprache, über die Huizinga schreibt: "Der Symbolismus war gleichsam der lebendige Atem des mittelalterlichen Denkens. Die Gewohnheit, alle Dinge nur in ihrem Sinnzusammenhang und ihrer Beziehung zum Ewigen zu sehen." Ergänzt wird dieser "systematische Idealismus" durch Personalität und Gestaltprinzip zu einer Matrix. Statt bloßer Funktionen zeigt diese Huizinga konkrete Ganzheiten.

Sie ermöglicht auch die Vernetzung der Einzelaspekte zur Struktur eines "Zeitgeists" und dessen Darstellung im großen Epochenmodell. In ihm verweben sich die Themen zum farbenprächtigen Teppich. Solch Verfahren erfreut nicht nur die Schaulust, sondern erweist das Ästhetische als Medium der Erkenntnis. Die schafft hier eine "Formenlehre des kulturellen Ausdrucks", so Werner Kaegi. Doch sind die Figuren im Spiel nicht fensterlose Monaden. Sie schauen um sich, weit zurück und nach vorn. So faßt die Spanne des alteuropäischen Blicks viele Zeitschichten, schillert der "Herbst" in manchen Farben. All das sollte uns heute davor bewahren, mit differenzialistischen und funktionalistischen Thesen sein dichtes Gewebe aufzutrennen. 

Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Kröner Verlag, Stuttgart 2006, gebunden, 565 Seiten, 16 Bildtafeln, 24 Euro


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