© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/07 28. September 2007

"Nach links drängte mein ganzes Wesen"
Der unbekannte Hermann Sudermann: Eine Erinnerung zum 150. Geburtstag des Schriftstellers
Kai Freese

In seinen "Litauischen Geschichten" habe Hermann Sudermann die Landschaft und die Menschen zwischen Memel und Kurischer Nehrung mit "liebenden Blick" erfaßt und das "wahre Wesen" seiner litauischen Landsleute erschlossen.

Soweit heute überhaupt noch etwas über den 1928 verstorbenen Sudermann zu lesen ist, beherrschen solche Nonsens-Zitate wie dies aus Helmut Motekats "Ostpreußischer Literaturgeschichte" (1977) das Feld. Und zwar vornehmlich in der Vertriebenenpresse, wie ein verfrühter Jubelartikel zum 150. Geburtstag des Dichters am 30. September belegt, den die Preußische Allgemeine Zeitung Ende August veröffentlichte (Nr. 35/07). Wer aber zu derartigen Worthülsen greift, wünscht keinen näheren Kontakt, verrät auch, daß er Vertrautheit mit Leben und Werk des so flüchtig "Geehrten" nie anstrebte.

Was bei solcher Kalenderblattprosa auf der Strecke bleibt, ist der zeithistorische, der politische und weltanschauliche Kontext von Literatur, nicht nur bei Sudermann, aber eben auch bei diesem gedankenlos als "Balzac des deutschen Ostens" verherrlichten Autor. Und gerade bei ihm ist die Einschränkung des Werkes auf ein vorgebliches Bemühen, das ahistorische "wahre Wesen" etwa des preußischen Litauers zu kristallisieren, besonders grotesk.

Man verweile nur kurz bei dem Erscheinungsdatum seiner angeblich Wesensschau treibenden "Litauischen Geschichten". Die kamen pünktlich im Kriegsjahr 1917 in Dutzenden von Auflagen auf den Markt, als die politische Publizistik sich nicht genug tun konnte, über "Ostfragen" zu debattieren, über die Zukunft des unter militärischer Verwaltung stehenden russisch-polnischen Territoriums zwischen Kurland und Galizien ("Oberost"), das nach dem Willen annexionistischer Kreise - und gegen den Widerstand der Verfechter des "Verständigungsfriedens" um Reichskanzler Bethmann Hollweg - als deutsches Siedlungsland zu erschließen war.

Reagierte Sudermann mit dem Sympathien einwerbenden, als archaisch-"erdgebunden" idealisierten Personal seiner Prosa also Respekt gebietend auf alldeutsche Raumordnungsvisionen, denen schon die erzählerisch so eindringlich vermittelte ethnisch-kulturelle "Ursprünglichkeit" der memelländischen "Kleinlitauer" eine Grenze setzen sollte? Oder gingen die Intentionen des Autors noch weiter, auf literarisch verhüllte Unterstützung der litauischen Unabhängigkeit?

Jedenfalls hob Sudermann im November 1917 mit Gustav Noske (SPD), Matthias Erzberger (Zentrum) und dem "Autonomisten" Wilhelm Gaigalat als Gründungsmitglied die Deutsch-Litauische Gesellschaft aus der Taufe, die sich für das Recht der "russischen" Litauer auf einen eigenen Staat stark machte. Daß er damit den Weg bahnte für den "großlitauischen" Chauvinismus, der 1923 seine raffgierigen Hände auch auf Sudermanns Heydekruger Heimat legte, sah der Dichter freilich nicht voraus.     

Es fällt nicht schwer, die Suche nach politischen Implikationen im Werk Sudermanns vor und nach 1917 erfolgreich fortzusetzen. Allein der Umstand, daß der Ostpreuße nicht mit "schöner Literatur" debütierte, sondern als Journalist und Parlamentsberichterstatter, der seit 1881 nach abgebrochenem Studium die Parteizeitung der "Freisinnigen" vom Leitartikel bis zum Kreuzworträtsel vollzuschreiben hatte, muß jeden Interpreten dazu zwingen, bei ihm den Primat des Politischen zu beachten.

Zudem läßt Sudermann selbst in seinen Lebenserinnerungen keinen Zweifel daran, wie früh und nachhaltig er geprägt wurde durch den adeligen wie bürgerlichen Linksliberalismus, der im Regierungsbezirk Gumbinnen und in Königsberg seine Hochburgen bildete, die das Erbe von 1848 bewahrten.

Nachdem die "Freisinnigen" sich im Kampf gegen Bismarck aufgerieben hatten, liebäugelte Sudermann, der rückblickend bekannte: "Nach links drängte mein ganzes Wesen", mit der 1890 vom Druck des Sozialistengesetzes befreiten SPD, die er wählte, die er 1893 für einen Augenblick sogar als neue politische Heimat ansteuerte ("Vielleicht geh' ich ganz zum Sozialismus über"), um dann doch im liberalen Fahrwasser weiterzuschwimmen. Dabei gewann er, nachdem Sudermann sich bereits 1896 im Kampf für die Pressefreiheit profiliert hatte, zur Jahrhundertwende besondere Statur, als er an der Spitze einer reichsweiten Kampagne eine Gesetzesnovelle ("lex Heinze") als Anschlag auf die Freiheit von Kunst und Wissenschaft abwehren konnte.

Als Mitglied zahlreicher Vereine zur "Volkserziehung" und "Sozialreform" wie auch als gesellschaftskritischer Autor verfolgte Sudermann diesen auf evolutionäre Veränderung setzenden Kurs während der gesamten wilhelminischen Ära. Der SPD-Vordenker Franz Mehring traf daher durchaus ins Schwarze, wenn er dem (seit 1902) als Schloßbesitzer im märkischen Blankensee auch äußerlich zum Establishment rechnende Dichter vorhielt, als Dramatiker und Erzähler trotz aller Gesellschaftskritik und bei konsequent durchgehaltener Kritik an der protestantischen Kirche als "Stütze des Systems" stets "nach innen" ausgewichen zu sein und die soziale Frage "typisch liberal" nicht als "Klassenfrage" begriffen zu haben

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als der literarische Ruhm schon verblaßte, stieß Sudermann noch einmal ins Zentrum politischer Meinungsbildung vor. Der nun patriotisch befeuerte Dichter war es, der im Herbst 1914 den "Aufruf der 93" organisierte, jene Apologie des deutschen Militärs durch die Kulturelite des Reiches, die heute gesinnungstüchtige Zeithistoriker nie ohne ein attributives "berüchtigt" zitieren.

Sudermann, der auch nach 1918, als einige Unterzeichner sich schon distanziert hatten, an seiner Unterschrift festhielt, um zum "Haß der Welt nicht auch noch die Verachtung zu ernten", blieb während des ganzen Krieges "vaterländisch" engagiert, sei es in der Fürsorge für seine 1914 vor der russischen "Dampfwalze" vorübergehend geflohenen ostpreußischen Landsleute, sei es zur moralischen Aufrüstung der Berliner "Heimatfront", für die er bis zum Ende des Kaiserreichs "Frohe Abende" ausrichtete.

Durch Kriegsniederlage, Revolution und die bitter empfundene, im Versailler Diktat verfügte Amputation seiner memelländischen Heimat vom Reich, ließ sich der Homo politicus Sudermann nicht erschüttern. Mit "dramatischen Lebensbildern" über "Das deutsche Schicksal" (1921/22) versuchte er das Weltkriegserlebnis "sinndeutend" zu verarbeiten.

Das autobiographische "Bilderbuch meiner Jugend" (1922) und - Königsberger Studienerfahrungen verwertend, insoweit als "Schlüssel"-Roman angelegt - "Der tolle Professor" (1926) bilden heute zusammen eine Kulturgeschichte der Bismarck-Zeit, wirkten aus der Weimarer Perspektive aber wie ein Stück "Vergangenheitsbewältigung", die im Rekurs auf die liberale Traditionen des "anderen Deutschland" republikanische Kontinuität stiftete.

Mit der 1881 abbrechenden Schilderung seiner Lehr- und Wanderjahre gelang Sudermann eines der wenigen "eindringlichen Erinnerungsbücher über die Bismarck-Ära", wie der Germanist Ernst Osterkamp im Nachwort zur Neuausgabe von 1990 urteilte. Es verwundert nicht, daß gerade dieses überaus politisch akzentuierte Zeitgemälde neben den realitätsgesättigten "Litauischen Geschichten" dem Schicksal der meisten Werke Sudermanns entging: vergessen zu werden.

Literaturempfehlung: Hermann Sudermann: Der Katzensteg, Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2006, gebunden, 256 Seiten, 16,95 Euro. Im Dezember erscheint dort auch Sudermanns Autobiographie "Das Bilderbuch meiner Jugend" (336 Seiten, 19,80 Euro)

Foto: Sudermanns Schloß Blankensee: Kampf für die Pressefreiheit; Hermann Sudermann (1857-1928): Homo politicus


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