© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/07 28. September 2007

Pankraz,
H. Janssen und die Alzheimer-Belletristik

Gut gemeint ist zwar, Karl Kraus zum Trotz, nicht automatisch das Gegenteil von gut, aber es verführt doch oft zu Schönrednerei und Hinnahme dessen, was man nicht hinnehmen sollte. So auch die sich häufenden Trostreden und Trostschriften für Alzheimer-Patienten und ihre Angehörigen. Es entsteht da offenbar eine ganze sentimentale Beschwichtigungsliteratur in Sachen Altersdemenz, was - wenn es so weitergeht - schnell sehr ärgerlich werden kann.

Mit Klara Obermüllers Doku-Erzählungen "Es schneit in meinen Kopf" begann es seinerzeit, setzte sich fort in Ursula Dettes Tagebuch "Ein langer Abschied" und hat jetzt voll das Genre populärer Erbauungsromane erreicht. Bastei/Lübbe kam mit Brenda Avadians "Die Zeit mit dir" heraus, DroemerKnaur mit Debra Deans "Palast der Erinnerungen", Ehrenwirt mit Claus C. Fischers  "Und vergib uns unsere Schuld". Begleitet wird der Boom von populärwissenschaftlichen Schriften aus dem gleichen Geist, etwa von Klaus Dörners "Leben und Sterben. Wo ich hingehöre".

Der Tenor all dieser Sachen lautet: "Ja, es ist schlimm, aber so schlimm auch wieder nicht. Man muß endlich begreifen, daß die von Demenz Heimgesuchten keine Patienten im medizinischen Sinne sind, sondern in eine eigene, an sich ganz natürliche Lebensphase eintreten, der man auch naturwarme, gemütliche Seiten abgewinnen kann. Die Angehörigen und Pfleger müssen nur liebevoll sein und sich sorgfältig in die neuartigen Situationen hineinfühlen."

Debra Dean beschreibt in ihrem Roman die Situation der von Alzheimer befallenen Protagonistin unter anderem so: "Es ist ein angenehmes Gefühl, Wasser zu lassen, wenn man es so lange zurückgehalten hat. Sie lauscht dem Plätschern und spürt, wie sich ein herrliches Gefühl der Entspannung in ihr breitmacht. Und wie schön es ist, an einem warmen und abgeschiedenen Platz zu sitzen, nicht in bitterer Kälte über einem Nachttopf zu kauern."

Eine Art Rückvertierung des Menschen wird gefeiert oder zumindest in "versöhnliche" Abendsonne getaucht. "Je weniger wir wissen, um so leichter läßt sich sterben", sagt Klaus Dörner. Das einst gefeierte Bild des "stolzen Sterbenden", der dem Skandal des Todes gefaßt und mutig entgegensieht, ist ein Auslaufmodell. Es wird ersetzt durch das Ideal des gleichsam blindlings Sterbenden, für welchen der von Alzheimer Befallene das Beispiel abgibt.

Er hat gar keine Ahnung davon, daß er stirbt, ihm sind - neurologisch gesprochen - die meisten seiner "Lebensdias", also seiner Erinnerungen, längst abhanden gekommen, er tritt völlig gleichgültig, bestenfalls begriffsstutzig ab. Und das, sagt die neue, mächtig ins Kraut schießende Alzheimer-Belletristik, ist gut so, naturgemäß und wohltätig. Das harmlose, gleichsam unbewußte Hinüberkommen wird zum Hauptanliegen der modernen Altersgesellschaft, rangiert weit vor der Verteidigung von "Ich", Selbstbewußtsein oder Identität.           

Nach spätestens 130 Lebensjahren, sagen die Altersforscher, könnte unser Gehirn ohnehin keine weiteren Dias mehr speichern und  verarbeiten, ohne in Aufruhr und Verwirrung zu geraten. Der reine Stoffwechseltod mag dann noch durch allerlei medizinische Tricks hinausgezögert werden, aber der Tod der Identität ist definitiv; neue Dias könnten nur noch aufgenommen werden, indem man die alten löschte, alle bis dahin angesammelten Daten vernichtete. Ein vollkommen neues Individuum würde entstehen, das in keinem Belang mehr Ich wäre.

Jedes Ich, so verkünden bärbeißige, strikt "monistisch" gesinnte Neurologen ungerührt, mündet hinnieden auf jeden Fall in Lethe, den Strom des Vergessens und Vergehens - oder es verwandelt sich in ein Tier. Monistische Gehirnforschung und belletristische Alzheimer-Rührseligkeit gehen Hand in Hand. Für beide liegt das typisch Menschliche nicht in hochspezifizierten individuellen bzw. kollektiven Gefühls- und Wissenswelten, nicht in Erinnerung und Identitätsstärkung, sondern in lediglich biologischen Lebensvorgängen, in Vergessen und Identitätsverlust.

Pankraz sieht hier große Gefahren heraufziehen. Es kann ja kaum etwas Schlimmeres geben als eine Allianz aus eiskalter "naturwissenschaftlicher" Überzeugung und suppiger "humanistischer" Rührseligkeit. Sämtliche Eugenik- und Rasse-Verbesserungsprogramme der Vergangenheit speisten sich aus dieser Gemengelage. Es beginnt mit scheinbar altruistischem Lobpreis trübseliger Nachttopf-Existenz und endet in der Verachtung und Mißachtung jeglicher anspruchsvoller Intellektualität.

Horst Janssen, der große verstorbene Zeichner und Lebenskünstler, konstatierte einst: "Die größere Leistung des Gehirns liegt im Vergessen und nicht im Erinnern." Er meinte freilich in erster Linie  das "kulturelle Gehirn" der Völker und anderer Gemeinschaften, nicht das organische des einzelnen. Das "kulturelle Gehirn" vergißt und erinnert nicht spontan, sondern es entscheidet in freier Souveränität, was um des kollektiven Gedeihens und Überlebens willen zu erinnern ist und was andererseits der "damnatio memoriae", dem Vergessen, anheimzufallen hat.

Für den freien Geist des einzelnen gilt im Grunde das gleiche: Er erinnert, weil er erinnern will, und er vergißt, weil er vergessen will. Und das, was er vergessen will, ist nie gänzlich vergessen, vielmehr in eine andere Gedächtniskammer verwiesen, von wo die Erinnerungen sich schwerer "abrufen" lassen. Nur eben: Der freie Geist des einzelnen lebt nicht aus sich selbst, er bedarf dazu des organischen Gehirns, und dieses  ist den Gesetzen des organischen Lebens unterworfen, es sammelt Neuronen und verliert sie wieder, es kann erkranken, und es stirbt schließlich.

Gegen den Tod kann man nichts machen, wohl aber gegen Erkrankungen und Verfallsprozesse vor der Zeit. Und Alzheimer ist und bleibt eine Krankheit. Ihr allein mit Liebe und Pflege beikommen zu wollen, führt zu bösen Häusern. Nötig sind Medizinen, Trainingsprogramme - und Erfolge in der Stammzellentherapie.


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