© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/07 28. September 2007

Zwischenland ohne klare Mehrheiten
Ukraine: Auch nach den vorgezogenen Parlamentswahlen wird es keine endgültigen Lösungen geben
Wolfgang Seiffert

Am 30. September finden in der Ukraine vorgezogene Parlamentswahlen statt. Sie sollen eine Dauerkrise beenden, die im April fast zum Bürgerkrieg führte. Präsident Viktor Juschtschenko warf der Partei der Regionen (PR) von Premier Viktor Janukowitsch vor, sie würde durch die gezielte Abwerbung von Abgeordneten auf eine Parlamentsmehrheit hinarbeiten, mit der sie die Verfassung - und damit die Befugnisse des Präsidenten - zu ihren Gunsten abändern könne.

Daher löste Juschtschenko das Parlament auf und ordnete für den 7. Mai Neuwahlen an. Doch das Parlament lehnte den Ukas ab, Abgeordnete riefen das Verfassungsgericht an, der Präsident löste den Vorsitzenden (und weitere Richter) des Verfassungsgerichts ab. Dieser klagte erfolgreich dagegen - der Streit eskalierte: Der Präsident unterstellte militärische Einheiten seinem Kommando, der Generalstaatsanwalt verfügte das Gegenteil, der Präsident setzte ihn ab. So erfaßte die Staatskrise auch die Justiz und die Sicherheitskräfte. In letzter Minute einigten sich Präsident, Premier und Parlamentspräsident auf vorgezogene Neuwahlen.

Abgesehen von einigen kleinen Auseinandersetzungen verlief der Wahlkampf trotz dieser turbulenten Vorgeschichte relativ ruhig. Auch die ukrainische Wirtschaft zeigt sich unbeeindruckt. Dank der anhaltend hohen Weltmarktpreise für Bauxit, Chrom, Eisenerz, Nickel, Titan und Zink sowie Stahl und Grundchemikalien (die wichtigsten ukrainischen Exportprodukte) rechnen Experten für 2007 mit einem Industriewachstum von über zehn Prozent. Die deutsche Commerzbank wird mit einer Milliardeninvestition in den ukrainischen Finanzsektor einsteigen. Nur im Agrarsektor wird mit wetterbedingten Verlusten gerechnet.

Die "blaue" PR, im bisherigen Parlament größte Fraktion, machte sich im Wahlkampf für zwei Referenden stark: Das eine soll Russisch zur zweiten Amtssprache erklären, das zweite den Nato-Beitritt verhindern. Gleichzeitig tritt die PR - wie die anderen Parteien auch - für Verbesserungen des Lebensstandards und wirtschaftliche Stabilität ein. Hinzu kommt aber die Forderung nach einem ausgeglichenen Verhältnis zu Rußland, mit dem die Ukraine geschichtlich lange Zeit verbunden war. Schon deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit der Bevölkerung einen Nato-Beitritt ablehnt.

Ebenso eindeutig dürfte das Russisch-Referendum ausgehen, sprechen doch nahezu 60 Prozent der Bevölkerung Russisch. Über 30 Prozent (vor allem in Osten und Süden) sprechen überhaupt nur Russisch. Juschtschenkos "orangenes" Bündnis Unsere Ukraine - Nationale Selbstverteidigung (NU), das vor allem in der antirussisch eingestellten West­ukraine (die einst zur k.u.k-Monarchie gehörte) stark ist, lehnt beides ab. Es will statt dessen die Förderung der ukrainische Sprache, man orientiert sich weiter zum Westen, zu Nato und EU.

Als dritte, nun "weiße" Kraft inszeniert sich Julia Timoschenko. Die einstige Ikone der "orangenen Revolution" von 2004 sieht sich als wahre Opposition, ihr Wahlblock (BJuT) plädiert ganz populistisch für die Abschaffung der Wehrpflicht, eine staatlich gelenkte Wirtschaft und die Rückabwicklung von unrechtmäßigen Privatisierungen. Unterstützung kommt vom Oligarchen Konstantin Schiwago.

Auch wenn sich erneut dieselben politischen Kräfte gegenüberstehen, hat sich ihr politisches Profil dennoch gewandelt. Die 2004 gängige Charakterisierung von Janukowitsch als "rußlandfreundlich" und Juschtschenko als "westlich" trifft das Bild nicht mehr. Schon 2006 gewann die PR mit Hilfe von US-Wahlberatern und bekannte sich zur EU.

Janukowitsch erhält Unterstützung von den Donezker Oligarchen Rinat Achmetow und Andrej Klujew sowie Unternehmern aus Charkow und Dnepropetrowsk - und die fürchten eine größere wirtschaftliche Einflußnahme von finanzkräftigen russischen Konzernen auf die ukrainische Wirtschaft. Zwar ist Janukowitsch nach wie vor gegen einen Nato-Beitritt, aber beim Streit um das geplante US-Raketenabwehrschild meinte er kürzlich, daran könnte sich auch die Ukraine beteiligen.

Die NU wird unter anderem vom Oligarchen Igor Kolomojski unterstützt. Sie orientiert sich zwar weiter auf den Westen, stellt aber - wie alle Parteien - stärker (meist unbezahlbare) soziale Forderungen heraus. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß der Widerstand gegen einen Nato-Beitritt stark und die Perspektive eines EU-Beitritts inzwischen gleich Null ist. Auf dem EU-Gipfel vorige Woche in Kiew vermieden die Brüsseler Vertreter denn auch jede Zusage. Sie verlangten nur demokratische Wahlen und danach eine rasche Regierungsbildung. Einzig Polen engagiert sich weiterhin als Anwalt der Ukraine in der EU.

Zwei Wochen vor der Wahl wurden die letzten Meinungsumfragen veröffentlicht - und sie bestätigen, was landeskundige Beobachter schon im Frühsommer prognostizierten: Es wird sich wenig ändern. Es treten zwar 21 Gruppierungen an, aber höchstwahrscheinlich werden erneut nur fünf Fraktionen in die Kiewer Werchowna Rada einziehen. Die PR, die im März 2006 auf 32,1 Prozent kam, dürfte mit 29 bis 34 Prozent wieder stärkste Kraft werden. Dem BJuT (2006: 22,3 Prozent) werden 19 bis 24 Prozent zugetraut. Juschtschenkos NU (2006: 13,9 Prozent) kann mit 10 bis 13 Prozent rechnen. Die Kommunisten (2006: 3,7 Prozent), die angeblich Geld vom Energiekonzern Oblenergo erhalten, werden mit 3 bis 5 Prozent gehandelt.

Den Sozialisten (SPU) von Parlamentspräsident Alexander Moros, die nach der Wahl 2006 ins blaue Lager wechselten, wird der Sprung über die Drei-Prozent-Hürde nicht mehr zugetraut. Das könnte dem Block von Wolodimir Litwin mit 3 bis 4 Prozent gelingen. Litwin war einst Leiter des Amtes von Präsident Leonid Kutschma (1994 bis 2004). Von 2002 bis 2006 war er Parlamentschef. Bei einem Patt zwischen PR und KPU einerseits sowie BJuT und NU andererseits könnte Litwin zum "Königsmacher" avancieren. Doch wie immer das Wahlergebnis aussieht: Die ungelösten Probleme bleiben bestehen, und endgültige Lösungen sind unwahrscheinlich.

Foto: Ex-Premier Julia Timoschenko: Stärkste Kraft der Opposition


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