© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/07 28. September 2007

Unlust am eigenen Land
Tag der Deutschen Einheit: Die Bindekräfte des Staates schwinden
Doris Neujahr

Siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung beherrschen Lethargie und Ratlosigkeit die deutsch-deutsche Szenerie. In Büchern und Traktaten figuriert sie als "Supergau", der das Land gefährde. Eigentlich, so heißt es, sei es nur zur staatlichen Zusammenfügung gekommen, die Einheit aber eine "Utopie" geblieben. Der Osten "verdummt, verarmt, vergreist", so vor drei Jahren der (aus der DDR stammende) Finanzexperte Edgar Most, und das trotz der Abermilliarden, die der Westen jedes Jahr in den Osten schaufelt.

Das Wirtschaftswunder, das für die Bundesrepublik über Jahrzehnte identitätsstiftend war, wiederholt sich nicht und schafft kein integrierendes Staatsbewußtsein mehr. Im Kern geht es gar nicht mehr um den Ost-West-Konflikt, sondern um eine generelle Unlust am eigenen Land. Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung, der Vertrauensschwund und die Schrumpfung der Parteien sprechen dafür. Statt das Problem nur auf den Ebenen der Wirtschaft und der Psychologie zu thematisieren, muß es politisch betrachtet und zeitlich tiefer ausgelotet werden, bis in die Anfangszeit der beiden deutschen Staaten.

Der Schriftsteller Bertolt Brecht schrieb nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 an Walter Ulbricht: "Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen." Was sich heute wie eine bloße Ergebenheitsadresse liest, war damals ein unüberhörbarer Hinweis auf das Legitimationsdefizit der DDR. Die SED-Propaganda unterschlug ihn. Den Menschen, die sich 1945 zufällig in der russischen Besatzungszone befanden, war die DDR von oben, von Stalin und seinen deutschen Satrapen, verordnet worden. Brecht verlangte, ihnen eine Debatte darüber zuzugestehen, unter welchen Umständen sie ihr Zusammenleben organisieren wollten. In die heutige Sprache übersetzt: Er verlangte einen freien Verfassungsdiskurs! Den konnten weder die SED noch die Russen zulassen. 1989/90 erledigte die Frage sich auf andere Weise.

Und im Westen? Heute wird, vergleichbar mit dem inkriminierten Brecht-Satz, unterschlagen, was der Sozialdemokrat Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz (GG) äußerte, dessen Eckpunkte von den Westalliierten verordnet worden waren: Im demokratischen Zeitalter, so Schmid, könne man nur dort von einem Staat "im legitimen Sinne des Wortes" sprechen, "wo es sich um das Produkt eines frei erfolgten, konstitutiven Gesamtaktes eines souveränen Volkes handelt. Wo das nicht der Fall ist, wo ein Volk sich unter Fremdherrschaft und unter deren Anerkennung zu organisieren hat, konstituiert es sich nicht (...). Sondern es organisiert sich lediglich, vielleicht sehr staatsähnlich, aber nicht als Staat im demokratischen Sinne ..." Dazu wurde später angemerkt, daß die Bundesdeutschen die Legitimierung des Staates nachholten, indem sie seine Institutionen akzeptierten und sich in ihrer überwältigenden Mehrheit an den Wahlen beteiligten.

Damit ist ein Gewöhnungs- und Anpassungsprozeß beschrieben, kein emphatischer Gründungsakt von mobilisierender Wirkung, die sich in regelmäßigen, feierlichen Ritualen stets neu vergegenwärtigen ließe. Der Prozeß war an die - stets auch moralisch korrumpierende - Erfahrung des Wohlstands gebunden, nicht an das erhebende Gefühl freier Selbstbestimmung.

1990 gab es zwei Möglichkeiten der Wiedervereinigung. Die eine nach Artikel 23 GG, der besagte, daß die Verfassung außer in den bereits bestehenden Ländern der Bundesrepublik auch in "anderen Teilen Deutschlands (...) nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei; oder nach Artikel 146 GG, dem zufolge das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Die frei gewählte Volkskammer der DDR entschied sich für den schnellstmöglichen Weg über Artikel 23 und entsprach damit den Wünschen der Bevölkerung, die freilich die Konsequenzen ihres Wollens nicht vorhersah. Aber auch außenpolitische Gründe sprachen dafür. Die Spannungen in Rußland waren unkalkulierbar und eine Mahnung, daß das Fenster zur deutschen Einheit nicht unbegrenzt offenstehen würde.

Die Chance, 55 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation zu einer souveränen Neugründung zu schreiten, die beide Teile des Landes zusammenführte, war damit jedoch vertan. Die Mitteldeutschen tauschten ihren gerade erkämpften Anspruch, über ihre staatlichen und politischen Umstände zu befinden, gegen die Zusage umfassender Versorgung ein. Bald fühlten sie sich überrollt. Übergangen fühlten sich auch die Westdeutschen. Sie waren durch die falsche Zusicherung ruhiggestellt worden, für sie würde sich gar nichts ändern, anfallende Kosten könnten aus den Zuwächsen des Bruttosozialprodukts finanziert werden. Damit wurde der soziale Etatismus, der 1989/90 bereits in der Krise war, als nunmehr gesamtdeutsche Staatsidee etabliert. Doch sie verliert von Monat zu Monat an Bindekraft.

Der 3. Oktober, der den 17. Juni als Nationalfeiertag ablöste, ist ein technisches Datum geblieben. Die "große Aussprache", wie die Deutschen zusammenleben wollen, gibt es bis heute nicht und soll es nicht geben.


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