© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/07 21. September 2007

Das Chorheulen der Ahnungslosen
Klippschulniveau: Kritiker des Kölner Kardinals Meisner entlarven sich als historisch bestenfalls halbgebildet
Klaus Motschmann

Der Kölner Kardinal Joachim Meisner gehört zu jenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die durch ihre deutliche Aussprache immer wieder mal Pawlowsche Reflexe auslösen, diesmal durch eine vermeintlich "falsche" Wortwahl. In einer Predigt hatte er von den Gefahren einer "Entartung" der Kultur gesprochen und damit einen Begriff gebraucht, der - so wörtlich zu lesen - "von den Nazis geprägt" worden sei. In übereinstimmend "richtiger" Wortwahl haben sich die Tugendwächter der Zivilgesellschaft über die "Entgleisung" des Kardinals in gewohnter Weise echauffiert.

Nun wird niemand ernsthaft bestreiten, daß dieser Begriff im Nationalsozialismus eine maßgebende Rolle gespielt hat - auch, wie man hinzufügen sollte. Es ist nämlich inzwischen weithin unbekannt, daß dieser Begriff lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus geprägt worden ist, und zwar von dem in Paris lebenden jüdischen Arzt und Schriftsteller Max Nordau (1849-1923), einem Mitbegründer der zionistischen Bewegung und Kulturkritiker. 1892 veröffentlichte er seine Studien zur Kultur des "Fin de siècle" in einem zweibändigen Werk unter dem programmatischen Titel "Entartung".

Nordau traf mit diesem Buch zum einen das Empfinden der großen Mehrheit seiner Zeitgenossen, zum anderen gab er einen kräftigen Anstoß für spätere Auseinandersetzungen um "entartete Kultur" nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch im Sozialismus Anfang der dreißiger Jahre. Zu erinnern ist hier an die radikale Kritik marxistischer Kulturtheoretiker wie Georg Lukács und Alfred Kurella ("Nun ist dieses Erbe zu Ende").

Ganz offensichtlich ist dieses Erbe aber doch noch nicht am Ende, wie die Kampagne gegen Kardinal Meisner beweist.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen