© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/07 14. September 2007

CD: Klassik
Naturalistisch
Andreas Strittmatter

Als wollte sie belohnen - oder versöhnen? -, singt Magdalena Kožená ganz am Ende mit stiller Inbrunst "Lascia ch'io pianga mia cruda sorte", Almirenas herzrührendes Lamento aus der Oper "Rinaldo". Belohnen? Versöhnen? Nun ist es keineswegs so, daß der Kožená am Ende der Aufnahmesitzungen mit Werken von Georg Friedrich Händel nach Tränen ob eines grausamen Schicksals zumute gewesen sein dürfte oder sie den kritischen Hörer letztlich gnädig stimmen müßte. Aber so manche Arie auf dieser Scheibe ist eine Zumutung. Ob im guten und anregenden oder im schlechten und peinigenden Sinn, das muß jeder Hörer für sich selbst entscheiden.

Worum geht's eigentlich? Magdalena Kožená hat ein Händel-Album mit einigen Kostbarkeiten aus Oper und Oratorium besungen, "Ah! Mio cor" mit Namen. "Hilfe! Mein Herz" mag mancher Belcanto-Purist rufen, wenn die Mezzosopranistin dann hie und da das Waschweib macht und zu einer mitunter recht naturalistischen Textdeutung mittels absichtsvoll danebenliegender Vokalisation greift.

Bei mindestens zwei der elf Auswahlstücke ist dies besonders deutlich der Fall, bei Dejaniras Szene "Where shall I fly?" aus "Hercules" und bei der Geisterbeschwörung "Ah! stigie larve!" aus "Orlando". Vor allem hier treibt Kožená ihr im Beiheft verteidigtes Konzept, häßliche Dinge auch häßlich singen zu wollen, auf die Spitze: Es darf gejault, gezetert und mächtig gejammert werden. Nur knapp scheint die Sängerin der Versuchung dann doch nicht erlegen zu sein, Orlandos "Vaghe pupille, nò, non piangete" mit einigen  zusätzlichen Schluchzern anzureichern, wie das sonst nur einige Puccini-Tenöre tun, wenn ihnen liebliche Fräuleins unter den Händen wegsterben - eine Sängertaktik, die Jürgen Kesting im Verismo immer wieder als "vokalen Mummenschanz" tadelt.

Grundsätzlich ist die Frage interessant, wieviel "Naturalismus" sich eine Belcanto-Gurgel leisten darf. Affekte und Emotionen teilen sich in der Barockoper zuerst über die kompositorische Faktur mit, dann über die Gestaltungskraft des singenden Personals. Beides wird gelegentlich als "Grammatik des Belcanto" zusammengefaßt. Als gestaltende Elemente gelten nebst dynamischen und agogischen Feinheiten die Fähigkeit, die Stimme der Stimmung des musikalischen Augenblicks gemäß einzufärben. Daß dabei die Phrasierung stimmen muß, versteht sich von selbst.

Magdalena Kožená beherrscht all diese Künste ganz wunderbar, wie sie zum Beispiel im Entree deutlich macht. Dem Klagegesang "Ah! mio cor" aus "Alcina" lauscht die Solistin immer wieder neue Farben und Schattierungen ab und küßt dabei jedes Wort wie eine kostbare Perle. Das grobschlächtige Betonen des Häßlichen und Wahnhaften, das einigen Opernfiguren Händels gelegentlich anhaftet, sollte freilich auch mit den genuinen Mitteln jenes Stils bewältigt werden, den spätere Zeiten "Belcanto" - den schönen Gesang - getauft haben.

Oder bestätigen Ausnahmen die Regel? Eines ist jedenfalls sicher: Koženás Händel-Album ist alles andere als langweilig. Seinen Teil dazu trägt das Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon bei, das bei allem beherzten Zugriff auf die Partituren für Plastizität und Transparenz sorgt. Dem Kuschelklang, den manche Alte-Musik-Ensembles zwischenzeitlich kultivieren, verweigert sich dieses Orchester. Daß Darmseiten auch sehr kratzig klingen können, kommt der künstlerischen Mission, mit der Magdalena Kožená ihr Programm bewältigt, hin und wieder sehr gelegen. Doch wie bereits eingangs angedeutet, sind zuletzt alle Beteiligten in überirdischer Schönheit vereint: "Lascia ch'io pianga" - diese Tränen möchte man gerne fließen lassen. Sie spülen auch manch naturalistische Manier von dieser Scheibe.


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