© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/07 07. September 2007

"Ein Subjekt gibt es nicht"
Held der Überordnung: Zum 150. Todestag von A. Comte, Begründer des Positivismus und der Soziologie
Günter Zehm

Positiv denken, eine positive Einstellung pflegen, in allen Lagen immer zuerst das Positive ins Auge fassen - solche Weisheiten gehören längst zur Eisernen Ration einer jeden Briefkastentante und eines jeden Telefonseelsorgers. Noch über dem letzten Manager-Aufbaukurs prangt mittlerweile die Parole "Denke positiv!", meistens in  der englischen Fassung: "Think positive!" Wer sich heutzutage nicht ausdrücklich zum positiven Denken bekennt, kann sich von vornherein ins Grab legen.

Zu verdanken haben wir das einem französischen Privatgelehrten, der vor 150 Jahren im Alter von 59 Jahren ins Grab gesunken ist: Auguste Comte aus Montpellier, dem Erfinder des "Positivismus"; das Wort stammt von ihm. Comte war an sich ein ingeniöser Kopf, katholischer Beamtensohn und grimmiger Feind der Revolution von 1789, der aber zeitlebens damit zu kämpfen hatte, nicht in Depression und geistige Umnachtung zu versinken. Er kannte die intellektuellen Pariser Salons der nachnapoleonischen Ära, er kannte aber auch die Pariser Irrenhäuser, und zwar von innen.

Comtes Seele war von Kindheit an ein unbezähmbares Chaos, deshalb strebte er mit jeder Faser seines Herzens nach Ordnung, nach einer gewaltigen Über-Ordnung sogar, an der man sich schier automatisch festklammern konnte und die einem für alles, buchstäblich für alles, sofortige und simple, "natürliche" Erklärung bot. Und als Quellgrund solcher Ordnung machte Comte die Naturwissenschaft aus, die sich damals, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, mächtig zu entfalten begann und fast täglich mit neuen chemischen und physikalischen Einsichten aufwartete.

Die Naturwissenschaft war für Comte der nur allzu notwendige Gegenschlag gegen die Französische Revolution, welche ihrerseits ein typisches Kind der vorangegangenen "Aufklärung" war, einer Epoche, in der nichts als individualistische Spinnerei und egoistische Anmaßung geherrscht hatten. So jedenfalls Auguste Comte in seinem großen Werk "La Système de la philosophie positive" von 1824, um dann fortzufahren: "Die positive Wissenschaft muß die Philosophie der Aufklärung endlich ablösen, sie muß an jene Stelle treten, die die Theologie im Mittelalter innegehabt hat. Die positive Wissenschaft ist die neue Menschheitsreligion, und es kann ihr gegenüber ebensowenig Glaubensfreiheit geben wie seinerzeit gegen die ehrwürdige Religion des Mittelalters."

Seine eigene, die "positive Philosophie", wollte keine Philosophie im herkömmlichen Sinne mehr sein, also kein Agglomerat von Meinungen, sondern sie wollte lediglich ein Ordnungssystem zwischen den einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaft herstellen. Eine  pouvoir spirituel war angepeilt, für die - ganz im Stile moderner Wissenschaftsverwaltung - ein großes Verwaltungszentrum eingerichtet werden sollte, ein "abendländisches Komitee", natürlich mit Comte als Vorsitzendem.

Alle Mitglieder der Gesellschaft hatten sich altruistisch für das Gemeinwohl einzusetzen, dem auch ein Kult gewidmet werden sollte, wie einst dem "Höchsten Wesen" des Robespierre während der Revolution. Es sollte jedoch - im Gegensatz zu dem Robespierres - ein strikt weltlicher, eben "positivistischer" Kult sein. Das von den Positivisten zu betende Credo sollte  lauten: "Liebe die Ordnung und liebe den Fortschritt, die Ordnung als Grundlage, den Fortschritt als Ziel!"

Ein oberstes Ziel, eine "letzte Ursache", einen Gott gab es indes nicht. Generelle Orientierung lieferte die Mathematik. Ihre Axiomatik lag dem Aufbau einer Wissenschaftshierarchie zugrunde, die von der Kosmologie über Physik, Chemie und Biologie bis zur Lehre vom Menschen fortschreitet, zur "Soziologie" - ein Begriff, der ebenfalls von Comte geprägt wurde.

Das Feld der menschlichen Beziehungen ist nach Comte wie der Sternenhimmel oder die Anordnung der Atome voll quantifizierbar. Das Individuum selbst spielt keine Rolle, ja, Comte leugnet es, es gibt für ihn kein selbstreflexives Subjekt. Der menschliche Geist, sagt er, kann zwar alle Vorgänge außerhalb seiner selbst beobachten, aber sich selbst vermag er nicht zu beobachten. Ihm ist es allenfalls möglich, "seine Leidenschaften zu analysieren".

Statt das Individuum ins Auge zu fassen, stellte Comte ein "soziales Axiom" auf: die "Geselligkeit", mit der  genauso mathematisch gerechnet werden kann wie mit anderen Axiomen, beispielsweise dem physikalischen Atom. Und Comte postulierte nun sein berühmtes "Drei-Stadien-Gesetz". Jeder Zweig unserer Erkenntnis durchläuft demzufolge drei Zustände: Erstens den theologischen oder fiktiven, zweitens den metaphysischen oder abstrakten, drittens den wissenschaftlichen oder positiven. Dementsprechend entwickelt sich die Menschheit aus der theologischen über die psychologische direkt in die positive Phase hinein, und das ist gut so, es liegt in der "natürlichen" Ordnung der Dinge.

In der theologischen Phase glauben alle an übernatürliche Kräfte, in der zweiten an ein "Wesen" hinter den Dingen. In der positiven, das heißt dritten, Phase aber erfassen wir das Einzelne im Zusammenhang der tatsächlich nachweisbaren Bedingungen, denen es nach einem - experimentell zu erhärtenden  - mathematischen "Gesetz" folgt. In der ersten Phase haben die Priester und die Krieger geherrscht, in der zweiten die Beamten, in der dritten herrschen endlich die "Industrialisten", wobei nicht unterschieden wird zwischen Fabrikanten, Ingenieuren und Arbeitern.

Im dritten, dem "positiven" Stadium erkennt der Mensch endlich, daß es völlig fruchtlos ist, zu absoluter - sei es theologischer, sei es metaphysischer - Erkenntnis gelangen zu wollen. Das Höchste, was erreichbar sei, sagt Comte, sei ein Generalgesetz, aus dem alle Erscheinungen widerspruchslos erklärt werden können, also eine Art superallgemeine Feldtheorie, wie sie die Physik heute so vergeblich für ihren Spezialbereich sucht.

Soviel also zum Positivismus und Soziologismus des Auguste Comte. Dieser fand noch zu Lebzeiten viele Anhänger und Bewunderer, seine Ansichten machten Geistesgeschichte und bestimmen auch noch heute die meisten wissenschaftlichen Diskurse und - nicht zu vergessen - die staatliche Wissenschaftspolitik.

Freilich darf man fragen, wie lange die Gesellschaft das aushalten wird. Comte seinerseits hielt es nicht lange aus. Er entdeckte die Liebe (zu Clotilde de Vaux), welche weder in den Positivismus noch in die Soziologie hineinpaßte, er begann über die Macht des Herzens und des Gefühls zu schreiben, sogar über Gott. Von Mathematik war keine Rede mehr.

 

Auguste Comte

Geboren am 19. Januar 1798 in Montpellier, aufgewachsen in einem katholisch und monarchistisch geprägten Elternhaus, studierte Auguste Comte zunächst in Paris an der École Polytechnique, einer technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Elitehochschule. Später bildete er sich autodidaktisch weiter und war zeitweise Sekretär des Sozialtheoretikers Claude-Henri de Saint-Simon. Nachdem alle Versuche scheiterten. eine akademische Anstellung als Hochschullehrer zu bekommen, hielt Comte Privatvorlesungen in seiner Wohnung. Freunde und Förderer unterstützten ihn finanziell. Auguste Comte starb am 5. September 1857 in Paris. (tha)


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