© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/07 07. September 2007

Alle dürfen mitmachen
Plötzlich ist alles interaktiv: Opa sammelte Briefmarken, der Enkel virtuelle Freunde
Ellen Kositza

Rund um das Schlagwort Web 2.0  wird seit geraumer Zeit gehörig Wind gemacht. Web 2.0 sei dabei, das Internet zu revolutionieren, heißt es. Hier etabliere sich jenseits der sogenannten "Vierten Gewalt" - der Massenmedien - eine "Fünfte Gewalt" mit massivem Potential.  Als Windmaschine fungiert dabei zunächst der Terminus an sich. Der Begriff - manche sprechen mit Skepsis von einer "Marketingblase" - ist vage und unscharf genug, um eine Menge an Wünschbarkeiten darunter zu subsumieren.

Web 2.0 meint keine spezielle Technologie, sondern bezeichnet eine Reihe interaktiver Phänomene innerhalb des Weltnetzes. Während das "alte" Internet statisch funktionierte - hier der Netzbetreiber, dort der passive Nutzer; hier der Informant, dort der Rezipient -, zeichnet sich das neue Netz durch seine dynamischen Möglichkeiten aus: Der Nutzer wird zum Mitmacher. Vom Schaukasten zum Baukasten, lautet die Formel.

Die mittlerweile gängigen Breitbandanschlüsse sorgen dafür, daß virtuelle Handlungen nahezu in Echtzeit ausagiert werden können.  Dies hat bisweilen banale, auch kritikwürdige Seiten. Plattformen wie das bekannte Second Life (JF 49/06; 4/07), die ein unüberschaubares Paralleluniversum bieten, oder die angesagte (20 Prozent Zuwachs pro Woche!) Seite twitter.com, über die weltweit Mini-Botschaften von gewöhnlich trivialster Aussagekraft ("Gerade Muffins gegessen - lecker!") interessierten Mitlesern unterbreitet werden, können durchaus den Verdacht nähren, der Cyberspace fungiere als gigantisches Ablenkungsmanöver von der Realität.

Diese Frage muß sicher gestellt werden: Was hat der durchschnittliche Surfer eigentlich noch vor zehn Jahren mit all den Wochenstunden angefangen, die er heute in Internetaktivitäten investiert? Mag sein, daß der klassische Chatter und Forendiskutant von heute in früherer Zeit Briefmarken sammelte oder seinen Kleingarten bestellte. Das Freizeitgebaren von Otto Normalverbraucher ist in Zeiten des Web 2.0 vermutlich im Schnitt von ähnlichem Belang wie das seines Vaters und Großvaters, allein der kommunikative Aspekt ist in den Vordergrund getreten.

Auch die gelegentlich gemutmaßte soziale Sprengkraft großer Plattformen wie Youtube hält sich doch in Grenzen: Klar, jeder Eigentümer eines zeitgemäßen Mobiltelefons mit Filmfunktion kann sein selbstaufgenommenes Video ins Netz stellen, und fraglos treten hier gehäuft unerhörte Alltagsbegebenheiten zutage, die früher nie auch nur Eingang in die Randspalte eines gedruckten Mediums gefunden hätten. Allein, auch der hundertste veröffentlichte Kurzfilm über eine Schulhofschlägerei, einen Straßenraub oder jugendlichen Massensex vermag keine ernsthafte gesellschaftliche Debatte anzustoßen.   

Spötter nennen den Rummel um das neue Internet zudem eine gigantische Gelddruckmaschine, da wirtschaftliche Einsatzpotentiale sich hier vervielfältigen: Wer in der heutigen Generation der Erwerbstätigen hat noch nicht ein Produkt online bestellt oder bei eBay gekauft? Selbst der eigentlich ökonomiefreie Raum der Partnersuche ist zu einem überaus beliebten und geldwerten Marktplatz in der Cyberwelt geworden. Die gigantischen Verkaufserlöse erfolgreicher studentischer web 2.0-Projekte wie StudiVZ sprengen jede Dimension, und die erfolgreiche  virtuelle Community Facebook (mit nach eigenen Angaben etwa 30 Millionen registrierten Nutzern und monatlich rund 40 Milliarden Zugriffen auf die Seite) soll allein durch den Verkauf von Werbeplätzen über 30 Millionen US-Dollar pro Monat erzielen.

Politisch interessant wird Web 2.0, wo es um den Informationshaushalt geht und eben um die heraufbeschworene Fünfte Gewalt: Durch die Möglichkeit, kostengünstig, barrierefrei, unzensiert und womöglich anonym Kenntnisse und Meinungen zu veröffentlichen, wankt das Monopol der herkömmlichen Massenmedien. Sicher: Dem unbedarften Schüler beim Zusammenstellen seiner Hausaufgabe ist das Internet ein allenfalls mäßiger Ratgeber, von interaktiven Optionen gar nicht zu reden. Ohne Kompaß - ein wegweisender Mentor fehlt naturgemäß, und selbst die allseits hochgelobten Suchmaschinen für Kinder erklären zwar Petting und Playstation, finden aber beispielsweise nichts zum Stichwort Elisabeth von Thüringen - erliegt er der Informationsflut. Konsum, Unterhaltung und Information sind nicht immer scharf zu trennen in den Weiten des Internet, erst recht nicht sachgemäße von mangelhafter Information.

Der Lobgesang auf die "wisdom of crowds", jene Weisheit der Masse, die Enthusiasten zur Hymne des angeblich hochdemokratischen Web 2.0 ausriefen, entpuppt sich bisweilen als kindischer Abzählreim. Einige Begebenheiten um das umstrittene Internetlexikon Wikipedia zeigten, daß Blockwarte auch im vorgeblich unzensierten Raum des Netzes das letzte Wort haben, der Dichter Ulrich Schacht sprach von einer "Internet-Gestapo", die durch Desinformationsstrategien mißliebige Personen diskreditiere, und auch die Rede von einem "organisierten Web-2.0-Mob" hat Spruchreife erlangt.

Die Möglichkeit zur Interaktion hat ihren vorläufigen Höhepunkt in der anarchistisch anmutenden zpeech-Funktion gefunden: Wer auf seiner selbstverwalteten Seite keine Diskussion wünscht, dem kann sie durch zpeech schlicht aufgezwungen werden. So erscheint dann ein dauerhaft eingeblendetes Fenster, in dessen Rahmen man ungeladen über die entsprechende Netzseite "diskutieren" kann.

All diesem Fragwürdigen und Riskanten der interaktiven Netzwelt steht jedoch eine gewaltige Option gegenüber, die es gerade für Konservative (die technischen Neuerungen gemeinhin skeptisch gegenüberstehen) noch zu entdecken und auszubauen gilt. Eine "Fünfte Gewalt", eine Dezentralisierung der überkommenen Meinungsmache durch Medienmonopolisten? Nicht ohne uns!

All jene Foren, Blogs und Podcasts, wie sie heute schon beispielhaft und bisweilen äußerst professionell von engagierten Einzelnen zur Verfügung gestellt werden, dienen ja nicht (nur) der lebensfremden Debatte rund ums eigene Nähkästchen. Hier soll mit praktischem Bezug vernetzt, kooperiert und verabredet werden, hier werden Initiativen ins Leben gerufen, werden Kontakte geknüpft, wird Rückenstärkung geboten: ein Segen für die, die sich - im privaten Umfeld bisweilen isoliert - lange Zeit als einsame Rufer in der Wüste sahen.   

Web 2.0: Man betrachte das Spielfeld als eröffnet.

Foto. Schöne neue Cyberwelt: Was hat der Surfer eigentlich vor zehn Jahren mit all der Zeit angefangen, die er heute ins Internet investiert?


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen