© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/07 07. September 2007

BRIEF AUS BRÜSSEL
Das Ende des Kemalismus
Andreas Mölzer

Vor seiner Wahl zum Präsidenten hat Abdullah Gül hoch und heilig versprochen, die laizistische Verfassung der Türkei zu achten. Ob er aber dieses Wahlversprechen auch einhalten wird, muß nun genau beobachtet werden. Daß der bisherige Außenminister in der islamistischen AKP-Regierung die Militärs als Hüter des Kemalismus nicht provozieren wollte, überrascht nicht. Im Frühjahr hatte eine Putschdrohung Güls Einzug in den Çankaya-Palast noch verhindert, aber das kleinasiatische Land in eine tiefe Krise geführt.

Derzeit ist ungewiß, ob Gül und Premier Recep Tayyip Erdoğan der Versuchung werden widerstehen können, die Türkei nach ihren Vorstellungen umzugestalten, was nichts anderes als ihre vollständige Islamisierung bedeuten würde. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte schon Ende September erfolgen, wenn Erdoğan den angekündigten Entwurf einer neuen Verfassung vorstellt. Deren wichtigster Punkt soll, soweit bisher bekannt ist, die totale Entmachtung der Armee sein, womit das Ende des Kemalismus endgültig besiegelt wäre.

Die drohende Islamisierung der Türkei scheint die EU jedoch nicht im geringsten zu beunruhigen. Ganz im Gegenteil: Die Wahl Güls versetzte das EU-Polit-Establishment, allen voran Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso, geradezu in Verzückung - denn nun komme endlich ein "neuer Schwung" in die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Daß nun die türkische Staatsspitze in den Händen einer islamistisch ausgerichteten Partei ist, scheint keinesfalls zu stören. Statt dessen läßt sich Brüssel viel lieber von Schalmeienklängen aus Ankara betören, daß nun der vielgepriesene Reformprozeß fortgesetzt werde. Dabei wäre es zwingend gewesen, spätestens nach der Wahl Güls die Beitrittsgespräche mit Ankara unverzüglich zu beenden. Denn aufgrund ihrer Biographien und verschiedener Äußerungen in der Vergangenheit ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß Gül und Erdoğan weniger eine Europäisierung der Türkei, sondern eher eine Islamisierung Europas anstreben.

Wie schnell sich Präsidenten, sobald sie im Amt sind, von ihren Versprechen vor der Wahl verabschieden können, zeigt die nunmehrige Haltung von Nicolas Sarkozy zum EU-Beitritt der Türkei. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf spielte er bekanntlich den wackeren Kämpfer gegen die Aufnahme Ankaras. Doch nun, gut zweieinhalb Monate im Amt, machte er zum Wohlgefallen der einflußreichen Türkei-Lobby einen Rückzieher. Sollten die EU-Mitglieder einen "Ausschuß der Weisen" zur Zukunft Europas einsetzen, erklärte Sarkozy bei einer Rede, dann werde er sich der Eröffnung von weiteren Verhandlungskapiteln mit der Türkei nicht entgegenstellen.

Was Europa braucht, ist jedoch kein Verlegenheitsgremium, das Sarkozy die elegante Entsorgung seines außenpolitisch wohl wichtigsten Wahlkampfversprechens ermöglicht. Vielmehr braucht Europa Staatsmänner, die die Wünsche und Sorgen ernst nehmen und nicht die Zukunft dieses Erdteils mutwillig aufs Spiel setzen. Denn die Bürger - der Souverän - lehnen den EU-Beitritt der Türkei mehrheitlich entschieden ab, weil dieses Land kulturhistorisch und mentalitätsmäßig außerhalb der Grenzen Europas liegt.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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