© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/07 31. August 2007

Schlachtfeld von Bulle und Bär
Der ehemalige Investmentbanker Charles Geisst porträtiert die Weltleitbörse an der New Yorker Wall Street
Hans-Jürgen Hofrath

Hört der geneigte Leser den Begriff "Wall Street", so assoziiert er hiermit etwa das chaotisch-hektische Geschehen um den von Michael Douglas gespielten, taffen Börsen-Tycoon im gleichnamigen Hollywood-Streifen. Wobei anzumerken ist, daß die dort dramatisierte Börsenwelt in der Grundaussage durchaus den von Charles R. Geisst in vorliegendem Band über das weltgrößte Finanzzentrum historisch nachgezeichneten, realen Verhältnissen nahekommt.

Deren Quintessenz ist nämlich in dem unentwegten Daseinskampf zwischen "Bullen" und "Bären" zu sehen. Grundeigenschaften wie Raubtierinstinkt, Gier, Risikofreude und Skrupellosigkeit als Voraussetzungen für den Erwerb unermeßlichen Reichtums werfen ein ebenso bezeichnendes Schlaglicht auf das Gesamtphänomen wie andererseits ruinöse Bankrotte, Kursstürze oder gar Selbstmorde. So sieht sich auch mancher Kleinanleger schmerzlich an das Jahr 2000 erinnert: Ein anfänglicher, künstlich hochgejubelter "Aktien-Hype" mündete in letztlich vielfachem Vermögensverlust im Gefolge von Panikverkäufen. Dies übrigens nach ganz ähnlichen Verlaufsmustern wie bei dem die Weltwirtschaftskrise auslösenden "Schwarzen Freitag" anno 1929 - oder auch im Zuge des Kurssturzes des Jahres 1987.

Die überaus wechselvolle, dennoch durch die ewig gleichen, von Gier und Hoffnung gespeisten menschlichen Grundverhaltensmuster sowie durch alternierende Baisse- und Hausse- Phasen beinahe naturgesetzlich gekennzeichnete Börsen- und Wirtschaftsgeschichte detail- und kenntnisreich zu skizzieren, ist ein durchaus gelungener Versuch des Werkes von Geisst. Dabei versäumt der Autor nicht, auch kritische Seitenhiebe auf die Wall Street - im übrigen immer schon Magnet besonders auch für ausländisches Kapital - auszuteilen.

Der über weite Strecken völlig unregulierte Börsenhandel mußte - nach vielerlei schmerzlichen Erfahrungen im Laufe einer über 200 Jahre währenden Finanzgeschichte - schließlich seine heute vorhandenen Strukturen erst finden. Dabei waren auch regulierende Eingriffe in anfänglich beinahe chaotisch anmutende, von Staatseinfluß weitestgehend freie Strukturen vonnöten - was um so bemerkenswerter ist angesichts der dominierenden US-kapitalistischen, marktgläubig geprägten Grundmentalität, welche jeglichem institutionellen oder staatlichen Interventionismus reserviert gegenübersteht. So erfolgten im Zuge des New Deal Machtbeschneidungen auf seiten der Banken; der Einfluß der Notenbank (Federal Reserve) wurde später entscheidend gestärkt sowie die Börsenaufsichtsbehörde SEC mit durchgreifenden Kompetenzen ausgestattet.

Der wache Beobachter der heutigen Globalisierungsszene mag hier nicht zu Unrecht eine sich aufdrängende Parallele mit Blick auf die Entwicklung der US-Wirtschaftsgeschichte erkennen. Schließlich ist in beiden Fällen eine vergleichsweise "wildwestartig" anmutende Gemengelage zu konstatieren, welche mit der Zeit vielleicht doch eines wie auch immer gearteten normativen oder institutionellen Ordnungsrahmens - nunmehr aber in globalem Kontext - bedarf.

Gleichwohl konstatiert Geisst eindringlich, daß Vorfälle wie der vor einigen Jahren Zeit aufgedeckte Enron-Bilanzskandal bis heute konstitutiver Teil dieser spannend zu lesenden Wirtschafts-Geschichte bleiben. Als Gefahr für die Märkte sieht er - neben bestehender Markt-Deregulierungen, Computerisierung des Handels sowie Hedgefonds - insbesondere die Handelspraxis von spekulativ getätigten "Leerverkäufen": Hierbei verkauft ein auf fallende Kurse spekulierender Investor Papiere - die er noch gar nicht besitzt - im Idealfall zu hohen Kursen, um sie später dann zu billigen Kursen erst zu erwerben.

Will man dem an sich pragmatisch und auf egoistische Vorteilserzielung ausgegerichteten spekulativen Treiben eine philosophische Dimension abgewinnen, so kommt man - wie es der Autor auch zutreffend tut - an philosophisch-geistigen Kronzeugen wie etwa dem utilitaristisch geprägten Philosophen Jeremy Bentham oder dem Protagonisten des "survival of the fittest", Herbert Spencer, nicht vorbei. Schließlich waren sie es, die sowohl das theoretische Grundgerüst als auch die Rechtfertigung für einen offen praktizierten Sozialdarwinismus lieferten. Versäumt hat indes der Autor, auf Friedrich Nietzsches Diktum von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" aufmerksam zu machen: Denn was könnte die zyklischen Fieberkurven etwa des Dow-Jones-Index besser illustrieren? Freilich haben die Beteiligten vieles gelernt und schufen institutionelle Mechanismen, die zumindest bislang Katastrophen vom Ausmaß des "Schwarzen Freitags" von 1929 verhüten konnten.

Hervorzuheben sei hier noch die Rolle von Analysten und Medienorganen, welche oftmals durch geschönte Beurteilungen und manipulative Berichterstattung die Aktienkurse "hochschrieben" und so maßgeblich dazu beitrugen, ganze Heerscharen gieriger Kleinanleger in die Märkte zu locken - mit bekanntem Ergebnis im März 2000. Das Anlegervertrauen sollte neuerlich auf Jahre beschädigt sein - um alsbald wieder einen Weg in den Börsenschlund zu finden. Wie fragil das System immer wieder sein kann, dürfte das aktuelle Drama der Spekulationen auf hochriskante, jeder betriebswirtschaftlichen Vernunft widersprechende Immobiliengeschäfte in den USA verdeutlichen.

Charles R. Geisst: Die Geschichte der Wall Street. FinanzBuch Verlag, München 2007, gebunden, 300 Seiten, 29,90 Euro


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