© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/07 24. August 2007

Zeitenwende am Bosporus
Türkei: Das Militär und die laizistische Elite werden die Wahl von Abdullah Gül zum Präsidenten nicht verhindern
Günther Deschner

Daß Abdullah Gül, der noch amtierende Außenminister, nicht gleich am Montag im ersten Wahlgang zum Präsidenten der Türkischen Republik gewählt worden ist, war allgemein erwartet worden. Denn im ersten wie auch im zweiten Wahlgang am Freitag sind Zweidrittel-Mehrheiten erforderlich, über die die islamisch-konservative Regierungspartei, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), nicht verfügt. Und es war klar, daß die 99 linksnational-säkularen Abgeordneten der CHP die Wahl boykottieren und die 70 Rechtsnationalen der MHP nicht Gül, sondern ihren Ex-Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoğlu wählen würden. Doch im dritten Wahlgang am 28. August reicht die einfache Mehrheit. Mit 341 AKP- von 550 Abgeordneten insgesamt (62 Prozent) kann für Gül nichts mehr schiefgehen. Spätestens dann wird zum ersten Mal seit Gründung der modernen Türkei (1923) durch Mustafa Kemal "Atatürk" ein frommer Moslem ins höchste Staatsamt einrücken.

Der Islamist Gül verkörpert Volksnähe und Integrität

Beim Anlauf im Mai war es Partei- und Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan nicht gelungen, seinen Weggefährten Gül als Staatsoberhaupt durchzusetzen (JF 19/07). Die säkularen Abgeordneten hatten die Wahl boykottiert und die Generäle, die selbsternannten Hüter des Erbes Atatürks, unverhohlen mit einem Staatsstreich gedroht. Erdoğan hatte nachgegeben und Neuwahlen angesetzt, aus denen seine Partei moralisch und politisch gestärkt hervorging. Mit gestiegenem Selbstbewußtsein tritt die AKP nun erneut mit Gül an. Ihr erdrutschartiger Wahlsieg vom 22. Juli (JF 31-32/07) war eine klare Botschaft: Die Armee, die säkularen Eliten, das Verfassungsgericht und der scheidende Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer - sie alle hatten mit fragwürdigen Mitteln Güls ersten Anlauf scheitern lassen. Auch deswegen wurden sie vom Wähler mit einem eindeutigen Votum für Erdoğans und Güls AKP abgestraft.

Wie wenig andere türkische Politiker verkörpert Gül Volksnähe und Integrität. In Zentralanatolien als Kind kleiner Leute geboren, machte der promovierte Volkswirt internationale Karriere, lehrte Wirtschaft in Istanbul, Exeter und London. Als Außenminister ist er international als Reformer respektiert. Gül ist fromm, und seine Frau Hayrünissa ist eine Verfechterin des islamischen Kopftuchs. Anders als die Klientelpolitiker der anderen türkischen Parteien verkörpern die Spitzen der AKP aber Reformwillen und Tatkraft. In ihrer fünfjährigen Regierungszeit stieg das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich sieben Prozent pro Jahr, die Inflation fiel von fast 70 auf unter 10 Prozent, die Exporterlöse haben sich verdreifacht. Wenn Gül voraussichtlich nächste Woche - ironischerweise am türkischen "Tag der Armee" - in das Präsidentenpalais (die Çankaya) einziehen kann, ist das auch ein Ausdruck dieser wirtschaftlichen Erfolge. Für die AKP bedeutet dies, daß sie bei der Suche nach einem Sonderweg "zwischen Mohammed und Atatürk", den ihre Politiker propagieren, ein Stück vorangekommen ist.

Die praktische Ausübung politischer Macht liegt natürlich in den Händen der Regierung, doch der türkische Staatspräsidenten hat mehr Macht als der deutsche Bundespräsident. Gül ist dann nicht nur Oberbefehlshaber der Armee, er ernennt den Generalstabschef, die Mitglieder des nationalen Gerichtshofs, die Universitätsrektoren und Spitzenbeamte der Verwaltung.

Die fast sichere Wahl Güls zum elften Staatspräsidenten der Türkischen Republik ist deswegen von vielschichtiger Symbolkraft: Denn der erste Träger des höchsten Staatsamts war kein geringerer als der als Gründer der modernen Türkei verehrte Mustafa Kemal Atatürk. Er hatte die Republik auf das Fundament des Laizismus gestellt; in der Verfassung ist der Staatschef seither als ihr "oberster Hüter" festgeschrieben. Gül wählt seine Worte seit der erneuten Nominierung mit Bedacht: Er werde sich strikt an die Trennung von Religion und Staat halten, die Verfassung achten und für alle Bürger da sein, unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Gül führte den Republikgründer auch als Kronzeugen seines politischen Handelns an, um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihm vorwerfen, eine "geheime Agenda" zu verfolgen: die schleichende Islamisierung der Türkei. "Mein Ziel wird es sein, das Land auf die Ebene einer modernen Zivilisation zu heben, wie Atatürk es prophezeit hat."

Die radikale säkulare Elite der Türkei, allen voran die Generalität, glaubt das alles nicht. In Gül sieht sie einen in der Wolle gefärbten Islamisten, der - statt sie zu hüten - die laizistische Staatsordnung aushöhlen will. Aber die Welle der Kritik hat an Kraft verloren. Daß diesmal keine Drohungen, nicht einmal Mahnungen des Militärs zu hören sind, bedeutet nicht unbedingt ein Einlenken der Generäle. Doch sie können die Çankaya kaum noch gegen die Religiös-Konservativen verteidigen. Es sei denn, sie greifen zum Äußersten wie zuletzt vor zehn Jahren - und putschen: Am 30. Juni 1997 mußte Erdoğans politischer Ziehvater, der damalige Premier Necmettin Erbakan, zurücktreten, ihre islamische Wohlfahrtspartei (RP) wurde verboten. Doch die AKP ist heute viel stärker als die RP (in der Erdoğan Parteivize war) damals. Und ein Putsch würde auch keines der gravierenden politischen Probleme lösen, vor denen die Türkei steht - das ungeklärte Verhältnis zu Europa und zu den USA, die Orientierung auf eine neue Rolle im sich wandelnden Nahen Osten und am dringendsten von allen: die immer explosiver werdende Kurdenfrage.

Foto: Kandidat Abdullah Gül vor Atatürk-Bild: "Mein Ziel wird es sein, das Land auf die Ebene einer modernen Zivilisation zu heben"


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