© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/07 17. August 2007

"Wir" und "Nicht-Wir"
Das konservative Minimum V: Kampfansage / Fünfter und letzter Teil der JF-Serie
Karlheinz Weissmann

Der amerikanische Erfolgsautor Thomas Wolfe hat seinen Roman "Ich bin Charlotte Simmons" mit einem merkwürdigen Vorspann versehen. Es handelt sich um einen Auszug aus dem fiktiven Lexikon der Nobelpreisträger, der den fiktiven Biologen Victor Ransome Starling betrifft. Starling, so der Text, habe 1983 ein Experiment durchgeführt, bei dem dreißig Katzen die Amygdala aus dem Großhirn entfernt wurde, eine mandelförmige Struktur, die bei höheren Säugetieren die Affekte steuert. Die Prognose lautete, die Tiere würden daraufhin grundlos in verschiedene Gefühlszustände verfallen: grundlose Angst, grundlose Euphorie, grundloses Imponiergehabe, grundlose Unterwürfigkeit.

Allerdings erfüllte sich diese Erwartung nicht. Faktisch gab es nur eine Emotion, die die Tiere beherrschte: sexuelle Begierde. Sie kopulierten miteinander, aber auch mit leblosen Gegenständen, immer wieder, ohne irgendeine Befriedigung. Schließlich ließ Starling einige Käfige öffnen und mußte irritiert erleben, daß eine der Katzen seinen Schuh zu bespringen suchte. Ganz Wissenschaftler, äußerte er die Vermutung, der Auslöser könne Ledergeruch gewesen sein, bis er von seinem Assistenten darauf hingewiesen wurde, die Katze gehöre gar nicht zu den operierten, sondern zu einer Kontrollgruppe, die physisch unbeeinträchtigt sei, aber mit den manipulierten in einem Laborraum lebe.

Der Zusammenhang von neurologischer Störung und Hypersexualität ist nicht der Phantasie Wolfes entsprungen, sondern wissenschaftlich gut belegt. Worum es dem Autor aber eigentlich geht, das ist die Macht "kultureller Parastimuli", das heißt von Einflußfaktoren, die jedes, auch jedes abnorme, Verhalten in einem Kollektiv durchzusetzen helfen, wenn es nur mit größerer Intensität verbreitet und nach und nach von immer mehr Gruppenmitgliedern übernommen wird.

Wolfe erläutert nicht, warum er diese Art Einleitung gewählt hat, aber der Leser kann unschwer eine Verknüpfung herstellen mit der Schilderung des Romans, der den Weg eines Mädchens aus der amerikanischen Provinz durch das Studium an einer Elitehochschule beschreibt. Der Kontrast ist scharf zwischen einer Lebenswelt, die immer noch von Tradition und Christentum, Patriotismus und überlieferten Männlichkeitsvorstellungen, Anstand und Bescheidenheit bestimmt ist, und jener anderen, hinter deren glatter und glänzender Fassade seltsam abgebrühte Menschen leben, ungleich gebildeter, aber auch verschlagener als die Hinterwäldler, Alte, die sich an ihre Macht klammern, und Junge, denen man schon nichts mehr über das wahre Leben beibringen muß, und die einen wie die anderen lassen sich willig von Gier und Obszönität beherrschen.

Die Kritik hat das Buch gefeiert, wahlweise als Satire, als Angriff auf den Kapitalismus oder das amerikanische System verstanden, aber nicht als ein Sittenbild, das auch die hiesigen Zustände trifft. Sicher gibt es im "alten Europa" und zumal in Deutschland einen Abstand zu dem, was Wolfe schildert, aber der schrumpft. Und was noch bedenklicher ist: Es wächst die Fähigkeit, sogar so drastische Attacken zu absorbieren, sie als reine Unterhaltung zu werten und dann zur Tagesordnung überzugehen.

Diese Fähigkeit zur Absorption ist auch an anderer Stelle zu beobachten. Etwa dann, wenn kleine Bestseller zur Verteidigung der lateinischen Liturgie, der Manieren oder der schulischen Disziplin erscheinen, was prompt als Beweis für Meinungsvielfalt und als Symptom der Besserung gewertet wird und jedenfalls eine beruhigende Wirkung auf viele ausübt, die Ursache hätten, beunruhigt zu sein.

Niemand glaubt aber im Ernst, daß die guten Sitten in der Kirche oder bei Tisch so beeinflußt werden. Diejenigen, die die wohlwollenden Rezensionen verfassen oder dem Autor höfliche Fragen in der Talkshow stellen, gehen nicht zur Messe und müssen sich mit niemandem abgeben, der Essen als möglichst formlose Nahrungsaufnahme betreibt. Wer anderes glaubt, meint auch, daß verstärkte Diskussionen über Bildung und Erziehung brauchbare pädagogische Konzepte hervorbringen.

Jede konservative Stellungnahme muß deshalb unterscheiden zwischen solchen Oberflächenphänomenen und dem, was den Kern des Problems ausmacht. Dieser Kern ist Dekadenz, das heißt Bedrohung durch Perversion und inneren Zerfall. Der Befund ist nicht neu, und es sind früh Diagnostiker aufgetreten, die unmißverständlich klargemacht haben, was es eigentlich mit der schönen neuen Welt auf sich hat.

Zu ihnen gehörte Alexander Solschenizyn. 1974 aus der Sowjetunion verbannt und dem kommunistischen System entkommen, lebt er seitdem in den Vereinigten Staaten. Aber das Verhältnis zu seiner neuen Heimat blieb zwiespältig. Eine Ansprache, die er im Juli 1978 an der Universität Harvard hielt, nahm er zum Anlaß, eine aufsehenerregende Feststellung zu treffen: Die selbstgewisse westliche Zivilisation ist krank.

Was Solschenizyn geißelte, war nicht nur die Gottlosigkeit und die Gewinnsucht, das Streben nach "Glück" als einzigem Lebenssinn oder das offene Bekenntnis zur Feigheit, vor allem ging es ihm um die grenzenlose Freiheit, das Schlechte zu tun, und die Unterdrückung der Freiheit jener, die dem entgegentreten wollen: "Ohne jegliche Zensur wird im Westen eine schikanöse Trennung zwischen modernen Gedanken und unmodernen vorgenommen, und die letzteren finden, obwohl durch niemand verboten, keinen Weg in die Presse, in die Bücher oder auf die Universitätslehrstühle. Der Geist eurer Forscher ist juristisch frei, jedoch umstellt von den Götzen der heutigen Mode. Nicht durch offene Gewalt ..., jedoch durch diese modische Selektion, durch die Notwendigkeit, dem Massenstandard zu genügen, werden die selbständig denkenden Individuen von einem Beitrag zum gesellschaftlichen Leben abgedrängt. Es entstehen gefährliche Symptome des Herdentriebes, die eine gedeihliche Entwicklung unmöglich machen."

Was Solschenizyn damals äußerte, hat ihm den Haß der "liberalen Öffentlichkeit" und der großen Medien eingetragen und Verleumdungen, ganz ohne Einmischung des KGB. Aber er verstummte nicht und hat ungerührt an seinen Auffassungen festgehalten. Auch heute sind die weit davon entfernt, für eine Mehrheit oder wenigstens für eine Elite repräsentativ zu sein, aber bestimmte Verschiebungen in den Kräfteverhältnissen sind doch zu erkennen.

Es gibt in den USA wie in Europa Intellektuelle, die den politisch korrekten Vorgaben nicht länger folgen. Ihre Motive mögen verschieden sein, in den Folgerungen berühren sich ihre Auffassungen in dem Punkt, daß ihnen die konventionelle Lüge unerträglich ist. Sie teilen das Unbehagen, das Benedikt XVI. zum Ausdruck brachte, als er von einer "Kultur des Todes" sprach, die sich als Vitalität maskiert. Damit ist das Zentrum der konservativen Überzeugung berührt, sofern sie Parteinahme für das Leben ist.

Jede konservative Agenda hat von diesem archimedischen Punkt auszugehen und muß das folgende umfassen:

1. Notwendig ist die Selbstverständigung über die eigene politische und kulturelle Identität. Identitätsfragen im engeren wie im weiteren Sinn werden das 21. Jahrhundert bestimmen, und solange es den Konservativen nicht gelingt, ihre Identität hinreichend gegen andere abzugrenzen, werden sie ohne Einfluß bleiben. Wenn jemand, ohne Widerspruch zu ernten, behaupten kann, konservativ sei ein möglichst verschwommenes Bekenntnis zum Alten, Wahren, Schönen, die Anerkennung des "Vorrangs für die Wirtschaft" (Dieter Althaus) oder das Ruhebedürfnis von in die Jahre gekommenen Veteranen der APO, dann besteht Klärungsbedarf. Solche Klärung von "Wir" und "Nicht-Wir" ist das, was allem anderen vorzugehen hat.

2. Dabei ist der Rückgriff auf die konservative Tradition hilfreich, aber nicht im Sinn einer Kostümierung. Die douceur de vivre des vorrevolutionären Frankreich ist ebenso dahin wie der Militärkonservatismus des 19. Jahrhunderts, die Welt der König-Ludwig-Verehrer ebenso wie die des Juni-Clubs, die des welfischen Bauern ebenso wie die des hanseatischen Bürgers. Kaum etwas kann in unserer Situation so gefährlich werden wie Nostalgie.

3. Doch eins: die Hoffnung auf ein Ende der Ideologien. Das ist seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder verkündet worden, aber die Hoffnung trog jedesmal, daß sich die Menschen willig Sachzwängen - von wem auch immer postuliert - unterwerfen würden. Eine "Ideologie" ist im Prinzip nichts anderes als Welt-Anschauung und insofern notwendig. Auch deshalb kommt der Metapolitik entscheidende Bedeutung zu. Sie dient der Absicherung im Prinzipiellen. Sie schafft die geistigen Mittel, die benötigt werden, um sich in einem Kulturkampf zu behaupten, der keineswegs auf exotische Gebiete beschränkt ist, sondern längst in den Metropolen geführt wird und oft gegen Kontrahenten, die nicht an äußeren Merkmalen zu erkennen sind.

4. Die Bezugnahme auf die Metapolitik soll aber keine Ausflucht sein. Es geht hier nicht um das "Wertkonservative", das sich im Einklang mit irgendwelchen Allgemeinheiten weiß, solange die nur gekonnt vorgebracht werden, es geht auch nicht um das "Kulturkonservative", das immer wieder der Falschmünzerei dient, weil man so gerne glauben möchte, daß es gar nicht nötig ist, sich mit der "schmutzigen" Politik zu befassen. Auch Metapolitik ist Politik und ihren Regeln als Kunst des Möglichen unterworfen.

5. Insofern darf keiner den Vorwurf der "Reaktion" scheuen. Unter den obwaltenden Umständen heißt das nichts anderes, als auf das "Abscheuliche" zu "reagieren" (Joachim Kaiser): Wenn die Hure zum modischen Leitbild wird, dann ist das abscheulich, wenn die Fäkalsprache in das öffentliche Gespräch Einzug hält, dann ist das abscheulich, wenn sich Vulgarität überall breitmacht, dann ist das abscheulich, wenn der Wohlgeratene sich dem Schlechtweggekommenen fügen soll, dann ist das abscheulich. Die Geschichte läßt Verbesserungen zu, aber die Bestimmung dessen, was als Verbesserung zu gelten hat, ist nicht an Kriterien der Modernität gebunden.

6. Konservative müssen sich zuerst und vor allem den Mut aneignen, zu erkennen, was ist. In diesem Land wie im Westen überhaupt gibt es einen mächtigen Konsens der Beschwichtiger, deren Entschlossenheit, die Fakten zu verschweigen oder ruchlosen Optimismus zu pflegen, um so größer wird, je eindeutiger die Tatsachen gegen sie sprechen. Es geht aber um Tatsachen, ganz gleich, ob Kriminalitätsrate oder Analphabetentum, die Kosten der europäischen Integration oder die Fälschung der deutschen Geschichte. Die Tatsachen bilden - nach einem Wort Heimito von Doderers - "unter den Erscheinungen des Lebens gewissermaßen das gemeine Volk ..., allerdings ein Volk mit derben Fäusten".

7. Weder Kenntnis noch objektive Lage werden genügen. Je länger, je deutlicher tritt vor Augen, welche Bedeutung Finanzen und Organisation haben. Angesichts der Größe der Probleme und angesichts der Entschlossenheit des Establishment, das zu verschleiern, wird man sich mit dem zu rüsten haben, was die politische und kulturelle Auseinandersetzung fordert. Es geht darum, organisierende Zentren zu schaffen oder zu stärken, die in der Lage sind, sich auch unter Druck zu behaupten. Wenn das nicht gelingt, wird keine Analyse und wird keine intellektuelle Brillanz helfen. Aber dieser Hinweis auf die Schwierigkeiten soll nicht mißverstanden werden. Den "nachfaschistischen Defaitismus" (Reinhart Maurer) müssen wir hinter uns lassen, den Kleinmut abstreifen, die lähmende Empfindung der vorweggenommenen Niederlage. Es steht nirgends geschrieben, daß unser Kampf vergeblich ist, wir müssen ihn aber aufnehmen.

8. Wenn das heute möglich scheint, jedenfalls aussichtsreicher als in der jüngeren Vergangenheit, dann vor allem, weil die Konservativen weniger Rücksichten zu nehmen haben. Die Parteiräson kann ihnen gleichgültig sein, von denen, die sie vertreten, können sie nichts erwarten. Sie dürfen gewiß sein, daß ihre Einschätzung der Lage angemessen ist und jedenfalls die Konzepte der Linken oder der Allerweltsliberalen keine brauchbaren Lösungen bieten. Das hat sich auch außerhalb des Kreises der Eingeweihten herumgesprochen, und die Veränderung der Lage, von der oben die Rede war, wird das Ihre tun, um eine konservative Position zu ermöglichen und zu befestigen.

9. Unsere Existenz ist bindungslos, heimatlos, haltlos, glaubenslos geworden, und damit sind dem Leben feindliche Kräfte aufgestiegen. Auch daraus bezieht eine Partei des Widerstands ihre Legitimität, eine Sammlung derer, die wissen, "aus Instinkt oder aus Einsicht, daß dem entfremdeten System, wenn wir ihm gewachsen sein sollen, eine Menschlichkeit entgegengeworfen werden muß, die nicht aus ihm stammt und nicht aus ihm entwickelt werden kann, die vielmehr aus den Reserven unserer Geschichtlichkeit geschöpft werden muß" (Hans Freyer).

10. Diese Agenda ist nur im Zusammenhang mit dem "konservativen Minimum" zu verstehen, das heißt, daß vieles ungeklärt bleibt, nur angesprochen, aber nicht erläutert werden kann. Wichtige Fragen - von der religiösen Entscheidung bis zur außenpolitischen Orientierung - bleiben offen. Das wird Widerspruch herausfordern, aber darin besteht kein Nachteil, denn das Politische zieht seine Kraft aus dem Streit, wie alles, was lebt. Eine neue konservative Position ist gegenwärtig nicht genauer zu bestimmen, weil sich ihr vollständiges Programm erst als Folge solchen Streits ergeben kann. Insofern ist das Vorstehende auch eine Kampfansage.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Die hier in den letzten fünf Wochen abgedruckte Serie (JF 27/07 ff.) erscheint demnächst in erweiterter Form in der Edition Antaios, Schnellroda, als Buch mit dem Titel "Das konservative Minimum".

Foto: Carl Spitzweg, Gewitterstimmung (Ausschnitt), Öl auf Holz, um 1870: Unsere Existenz ist bindungslos, heimatlos, haltlos geworden


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