© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/07 10. August 2007

Protektorat Europa
Letzte Menschen: Kulturelle Vielfalt und religiöse Freiheit sind eher Tauschobjekte als Werte
Thorsten Hinz

Könnte es ein, daß die Turbulenzen auf dem jüngsten EU-Gipfel den Zustand eines Kontinents demonstrierten, der seine Zukunft hinter sich hat? Haben die Einigungsversuche Europas entscheidende 30 Jahre zu spät eingesetzt?

Die Karten lagen bereits Ende des Ersten Weltkriegs auf dem Tisch. Mit der Oktoberrevolution 1917 hatten die Ressourcen Rußlands sich mit einer Zukunftsideologie von gewaltiger Sprengkraft verbunden. Im Westen waren die USA zur überragenden Macht aufgestiegen. Ihr Eingreifen hatte über den Kriegsausgang entschieden, Europa war ihr Schuldner geworden. Der Abschied vom Streben nach nationaler Hegemonie und der Aufbau einer gemeinsamen Machtposition gegen die beiden Kolosse waren das Gebot der Stunde. Nötig war ein nach außen geschlossener, nach innen gegliederter europäischer Großraum. Die nationale Idee wäre der Integrationsfaktor geschichtlich gewachsener Volkseinheiten geblieben, doch sie hätte ihren politisch abschließenden Charakter verloren und sich in die Notwendigkeit einer höheren Einheit gefügt. Der Großraum wäre kein Selbstzweck gewesen, sondern hätte die Vielfalt seiner Kultur- und Lebensformen gegen den "Homo sovieticus" wie den "Homo americanus" zu schützen gehabt.

Der Begriff "Sowjetmensch" bezeichnet den - technisch oft hochspezialisierten - Funktionär der kommunistischen Ideologie. Dieser entstammte den vom Zarismus in Stumpfheit und Analphabetentum gehaltenen Massen. Die Sowjetmacht hatte seine kulturelle und intellektuelle Entwicklung bis zu dem Niveau gefördert, das zu seiner ideologischen Indoktrination nötig war, und sie dann wieder abgebremst, damit er nicht befähigt würde, die Ideologie in Frage zu stellen. Was vom Ausgangspunkt des russischen Muschiks trotzdem als ein Fortschritt erschien, hätte sich am Europäer nur als brutale Regression vollziehen können.

Der (von der Kulturkritik vielfach thematisierte) "Homo americanus" meint eine konfektionierte Individualität, die der standardisierten industriellen Warenwelt entspricht. Der geschichtliche Mensch wird in seine Einzelteile zerlegt, die anschließend einer trivialen Normierung unterzogen werden. Diese zwei Varianten menschlicher Eindimensionalität sind in Orwells "1984" und in Huxleys "Schöner neuer Welt" beispielhaft beschrieben.

Damit ist auch die Frage nach der Sinnhaltigkeit räumlicher Abgrenzungen im damals angebrochenen Luftzeitalter (die sich im Zeitalter der Raumfahrt und des Internet noch schärfer stellt) beantwortet: Wer Europa als geistig-kulturelle Einheit aus differenzierten Kultur- und Lebensformen betrachtete, der mußte auch den kontinentalen Boden mit seiner Geschichtlichkeit, den Städten und kulturellen Artefakten darin einschließen. Mit ihnen lebte und kommunizierte der europäische Mensch, sie waren Teil seiner selbst. Doch die geschichtliche Aufgabe blieb unerkannt.

Die Völkerbund- und Pan-Europa-Projekte liefen ins Leere, weil sie das Versailler System aus Siegern und Unterlegenen festschreiben wollten. Die ungelösten nationalen Konflikte führten zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Je hoffnungsloser der Kriegsverlauf für Deutschland unter Hitler wurde, um so mehr versuchte es den Verdacht eines Hegemonialkrieges zu zerstreuen und den europäischen Verteidigungskrieg gegen die anbrandenden außereuropäischen Mächte zu propagieren. Natürlich fehlte dieser Propaganda jegliche Durchschlagskraft. 1945 teilten Rußland und die USA den Kontinent unter sich auf.

Für Westeuropa war der äußere Feind, der endlich echte Gemeinschaftsstrukturen erzwang, in Gestalt der sowjetischen Bedrohung greifbar. Doch war diese Gemeinschaft kein wirklich freies Europa mehr, das stellvertretend für das Ganze handelte, sondern ein Protektorat der westlichen Vormacht, deren Vorstellungen von Gesellschaft, Kultur, Lebensformen sich durchsetzten. Nicht, daß in Osteuropa der Sowjetmensch vollständig triumphiert hätte, aber ein letzter Hort europäischer Werte konnte es noch weniger sein. Da allein die Macht der USA die Aussicht eröffnete, jemals vom sowjetischen Joch befreit zu werden, wurden sie dort erst recht zum Vorbild und ihre Massenkultur zum Fetisch.

Grundlegende Vorstellungen von Europa sind auch nach 1989 nicht entwickelt worden, seine politische, geistige, strategische Re-Emanzipation ist ausgeblieben. Weder in West- noch in Osteuropa gibt es ein Bewußtsein für die tieferen Gründe der europäischen Entmachtung und Selbstentmachtung im 20. Jahrhundert. Und vor allem ist es inopportun, daran zu erinnern, daß die USA und die Sowjetunion an der Eskalation zum Zweiten Weltkrieg ihren Anteil hatten und er für sie das Mittel war, die Herrschaft über Europa zu erlangen. Hitlers Monstrosität verdeckt den Blick darauf, daß das deutsche Potential im Vergleich zum amerikanischen und sowjetischen sehr beschränkt war und der "Führer" aus macht- und globalpolitischer Perspektive für Moskau und Washington kein ebenbürtiger Gegenspieler war, eher eine exaltierte Schachfigur. Es wird verdrängt, daß Osteuropa durch Roosevelt an Stalin in Teheran und Jalta konzediert wurde. Solange Hitler-Deutschland als Allein-Ursache und -Motor der europäischen Tragödie gilt (und nicht auch als Symptom, Produkt und Katalysator europäischer Zerrissenheit und Schwäche nach dem Ersten Weltkrieg), können die USA und die Sowjetunion ihr Ausgreifen nach Europa als antinazistische Befreiermission überhöhen und camouflieren, Rußland seit 1989 allerdings mit einigen Einschränkungen.

Wie soll auf dieser schiefen Ebene ein europäisches Bewußtsein und eine Erkenntnis der eigenen Situation entstehen? Kein Wunder also, daß es einzelne Länder gab und gibt, die zu Rußland Sonderbeziehungen knüpfen, was die Osteuropäer an der EU irre macht. Andere unterhalten Sonderbeziehungen zur USA und geben den Amerikanern so die Gelegenheit, eine kohärente EU-Politik zu torpedieren. Die Gefangenschaft Europas als Ganzes wie seiner einzelnen Glieder in überholten Geschichtsprojektionen sind zwei Seiten einer Medaille. Polen zelebriert seine ewige Opferrolle, Frankreich seinen Großmachtanspruch, und Großbritannien betreibt Gleichgewichtspolitik, als hätte es noch ein Empire zu bewahren.

Für Deutschland ist die Situation besonders schwierig. Einerseits ist es als europäisches Zugpferd unersetzbar, andererseits darf es keinen Hegemonialverdacht aufkommen lassen. Die springenden Punkte sind weder die politische Zurückhaltung gegenüber den Blödigkeiten einiger Nachbarn noch die überproportionalen Nettolasten. Angesichts seiner Mittellage kann es sie als Investition in die eigene Wohlfahrt verbuchen. Problematisch ist sein moralischer Selbstverzicht, der sich auch gegen Europa richtet.

Die beschriebene Melange aus Halbwahrheiten, Verdrängungen, Mystifizierungen gehören zum antifaschistischen Gründungsmythos der EU. Eine europäisch orientierte Realpolitik hätte diese Tatsache zu beachten und gleichzeitig auf ihre Änderung hinzuarbeiten, um ein adäquates historisches und politisches Bewußtsein zu schaffen. Doch Deutschland hat sich (zuletzt explizit durch Ex-Außenminister Joschka Fischer) sogar dazu bereit erklärt, sie als moralischen Imperativ zu akzeptieren. Damit wird vernebelt und zementiert, daß die EU noch immer eine Unterfunktion des amerikanischen Globalanspruchs ist, so wie im 19. Jahrhundert die Heilige Allianz eine Unterabteilung der englischen Gleichgewichtspolitik war.

Aber muß die Frage nach der europäischen Selbstbehauptung nicht noch eine Ebene tiefer, auf die kulturelle, gelegt werden? Gibt es überhaupt noch jemand, der an eine eigene europäische Kultur- und Lebensform glaubt? Sind die Europäer als Wohlstands- und Kulturkonsumenten nicht vollauf mit sich zufrieden - und gibt es nicht in der Tat Schlimmeres? Der Standardisierungs- und Normierungswahn der Brüsseler Bürokratie, der von der materiellen  auf die geistig-ideelle Sphäre längst übergegriffen hat, ist die Antwort darauf. Toleranz, religiöse Freiheit, kulturelle Vielfalt, Menschenrechte sind Markennamen oder Tauschobjekte, mit denen der europäische Konsument sich seinen Verbraucherfrieden erkaufen will, keine Herausforderung an ihn selber, seine Situation zu prüfen und zu erkennen.

Am Umgang mit dem Islam ließe sich das leicht nachweisen. Statt einer europäischen Idee also eine Herdentier-Moral und -Furchtsamkeit à la Nietzsche: der Normalzustand von Protektierten?


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