© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Passagiere und Steuerleute
Das konservative Minimum III: Sicherheit in der Beurteilung von Möglichem und Unmöglichem / Dritter Teil der JF-Serie
Karlheinz Weissmann

Manche sind der Meinung, daß es Konservative schon immer gegeben hat. Noah käme in Frage, dem Gott sagte, daß das "Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ... böse von Jugend auf" (Genesis 8,21) ist, und dessen Ordnung ganz dem konservativen Grundsatz folgte, Gewalt durch Gegengewalt zu hegen. Außerhalb Europas könnte man den Konfuzianismus als Beispiele konservativer Theorie nennen oder die politische Lehre des Inders Kautilya, wahrscheinlich auch die ägyptische Vorstellung von "maat", der sinnvollen Ordnung und Gliederung des Ganzen.

Niemand würde widersprechen, wenn man Sparta als konservativ bezeichnete, und sicher war die Philosophie Platons in vielem konservativ, ebenso das Ethos des älteren Cato und dann wieder die Staatslehre Augustins. Die das Mittelalter beherrschende Reichs­idee hatte einen konservativen Zug, während man Machiavelli ganz an den Rand stellen müßte, aber immerhin. Luther war ein "konservativer Revolutionär", und die Schottische eine konservative Aufklärung. Die Zuordnung gilt für die ständische Opposition gegen die neuen, absoluten Herrscher des 17. und 18. Jahrhunderts ebenso wie für den Klassizisten Goethe.

Es bleibt bei dieser Auflistung allerdings ein gewisses Unbehagen. Ernst Nolte hat das damit erklärt, daß zwar eine "ewige Linke" existiere - von den streikenden Fellachen der Pharaonenzeit bis zu den Globalisierungsgegnern der Gegenwart -, aber keine "ewige Rechte". Auch das hängt mit der Geschichte zusammen. Die Linke setzt zwar auf die historische Veränderung, weil sie sie immer für Fortschritt hält, aber sie bleibt ignorant gegenüber deren tatsächlicher Wirkung. Konservative dagegen wissen um die Macht der Geschichte, auch um deren Unzugänglichkeit für rationale Erklärungen.

Es klingt seltsam, das festzustellen, aber die Linke kann ihr Programm konservativ behandeln, insofern es utopisch ist, ahistorisch, im Grunde keiner Verwirklichung fähig, während die Konservativen ihre Vorstellungen immer wieder zu korrigieren haben, weil die Realität genau dazu zwingt. Wenn das Konservative nicht zu verstehen ist "als ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt" (Albrecht Erich Günther), dann läßt sich doch das, was immer gilt, nicht direkt fassen, es ist von Fall zu Fall zu klären, wie das Ewige zur Geltung gebracht werden kann.

Auch das hat sich erst in den beiden letzten Jahrhunderten klarer abgezeichnet. Das Tempo des historischen Wandels in diesem Zeitraum schärfte die Wahrnehmung dafür, was eigentlich "geschichtlich" ist, und sie hat einen Zwiespalt im konservativen Lager aufgedeckt, den es auch vorher schon gab, aber nicht mit so klarer Kontur. Wenn man bei dem von Konservativen so geschätzten Bild vom Strom der Zeit bleibt und sich die menschlichen Ordnungen als Schiff denkt, dann könnte man von zwei Varianten des konservativen Typus sprechen: "Passagieren" und "Steuerleuten".

Nehmen wir zuerst den "Passagier". Es handelt sich dabei im Grunde um den idealen Konservativen, also in unserer Zeit den integren Mann mit Bildung, Manieren und Sicherheit in der Beurteilung von Möglichem und Unmöglichem. Er hat einen Beruf, den er verantwortungsvoll ausübt, er hält sich fern von unseriösen Geschäftspraktiken, achtet auf Umweltverträglichkeit und gesunde Ernährung, hat Familie oder denkt an Eheschließung, er liebt sein Vaterland, bleibt in der Kirche seiner Vorfahren, kultiviert seinen Freundeskreis, schätzt guten Wein, gute Bücher und gute Musik. Tradition ist für ihn weniger aktive Aneignung als selbstverständliche Übernahme. Wahrscheinlich bevorzugt er Autos skandinavischer Marken und für die Alltagskleidung das Englisch-Lässige, tweeds and wools.

Die Orientierung am Englischen ist kein Zufall, sondern fast instinktiv zu nennen. Denn der Erzvater des konservativen Denkens, Edmund Burke, hat eine Weltanschauung entworfen, die im Grunde alles Erwähnte deckt: "Neigung zum Erhalten und Geschicklichkeit zum Verbessern", so sein Credo, bildeten das Fundament jeder konservativen Einstellung. Das lehre die Erfahrung, der man sich eher anvertrauen solle, als den selbstgewissen Ideologen mit ihren politischen Reißbrettentwürfen. Sie führe uns auch dahin, den "Generationenvertrag" zu achten, der die Ahnen mit uns und unseren Nachkommen verbinde. Den Respekt vor der Tradition lasse nur der vermissen, der stumpf sei gegen die allgemeinen Regeln, die wir dem gesunden Menschenverstand danken. Die schlagen sich im Common sense nieder, der wieder auf einer Menge von Vorurteilen beruht, die man "mit Zärtlichkeit lieben" sollte.

Alle gute Politik geht nach Burke von diesen Fundamenten aus. Ihr Bezugspunkt sind die Einzelhaushalte, deren Gesamtheit auf organischem Weg die Nation bildet. Aktiv beteiligen dürften sich am politischen Leben eigentlich nur Befähigte, nicht die Menge der Dilettanten, die ihren eigenen Vorteil sucht oder von Geltungssucht getrieben wird. Man hüte sich hier wie in der Religion vor allen Extremen und folge einem mittleren Weg.

Diese Art von Konservatismus hat bis in die Gegenwart eine breite Anhängerschaft. Viele, die in der Öffentlichkeit als Verfechter konservativen Denkens gelten, berufen sich auf ähnliche Grundvorstellungen. Man könnte als repräsentative Vertreter Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest genauso nennen wie Johannes Groß. Systematisch hat den Zusammenhang neuerdings Alexander Gauland entwickelt. In zwei Büchern bemüht er sich um den Nachweis, daß Konservativsein eine anthropologische Konstante ist, eine prinzipiell immer mögliche Position gegen die Allmacht des Staates wie gegen die Allmacht des Individuums, gegen das Wirtschaftliche wie gegen das Soziale als einziges Kriterium sinnvoller Politik. Das Konservative erscheint Gauland als Damm gegen die Vulgarität der Gegenwart und gleichzeitig als Möglichkeit, das Alltagswissen zu rehabilitieren, das einem auch sagt, daß es ein Übermaß an Veränderung gibt, das den Menschen schädigt. "Entschleunigung" sei deshalb ein "Schlüsselwort zeitgenössischen konservativen Denkens".

Gauland argumentiert im Grunde aus der Position des Besitzstandswahrers, der ein vor allem ästhetisches Ungenügen an der Gegenwart empfindet und irgendwie bedauert, jenseits des Ancien Régime zu leben; die Grenze zur Nostalgie ist fließend und die Bereitschaft stark, Abfindungsformeln zu gebrauchen, die das Unabwendbare irgendwie erträglicher machen.

Es wäre allerdings ungerecht, wenn man die Auffassungen Burkes selbst so charakterisieren wollte. Er taugt nicht als Rechtfertigung für jene, die im Grunde nur betrübten Blicks, hier und da den Einzelfall korrigierend, den Gang der Zeit hinnehmen und das, was kommt, als unausweichlich betrachten. Wenn man die politische Biographie Burkes genauer betrachtet, dann ergibt sich ein anderes Bild als das des "Liberalkonservativen", der stets die Mitte suchte und bestenfalls an moderate Veränderungen dachte. Derselbe Burke, der das englische System der organischen Veränderung lobte und fast elegisch die Vorzüge eines Lebens in der Überlieferung pries, war einer der schärfsten Befürworter der militärischen Intervention gegen das revolutionäre Frankreich, er unterstützte die Sache der vertriebenen Bourbonen mit einer Vehemenz, die selbst den englischen Tories zu weit ging und wollte einen vollständigen Umsturz des Umsturzes herbeiführen, weil die Verhältnisse auf dem Kontinent sonst nicht gesunden könnten.

Dies zur Kenntnis nehmend, verliert der von Gauland gepflegte Widerwille gegen die Tradition des deutschen Konservatismus und dessen - wenn man so will: aktivistisches - Moment an Plausibilität. Die Haltung der "Passagiere" erscheint dann immer deutlicher als eine, die in ruhigen Gewässern annehmbar ist, die sicher dem konservativen Temperament besonders nahe liegt, die aber ihre Berechtigung verliert, wenn man sich Stromschnellen oder Untiefen nähert oder Sturm aufzieht und man bemerkt, wie schlecht die Mannschaft des Schiffes arbeitet.

Bismarcks hat einmal geäußert: "Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken, er kann nur darauf hinfahren und steuern." Immer wieder benutzte er den Begriff des "Staatsschiffes", eine seit der Antike gebräuchliche Metapher, und berühmt wurde die Karikatur der britischen Zeitschrift Punch nach seiner Entlassung durch Wilhelm II., die den Titel trug "Der Lotse geht von Bord" und Bismarck das Fallreep heruntersteigend zeigte, während ein allzu selbstgewisser junger Kaiser über die Reling schaute.

Bismarck galt vielen Konservativen seiner Zeit als Umstürzler, als "weißer Revolutionär", der das Gottesgnadentum deutscher Herrscher mit Füßen trat, Staaten, die seit Jahrhunderten bestanden, von der Landkarte tilgte, und sogar kirchliche Traditionen beseitigte, von denen man glauben mochte, daß sie immer so bestanden hatten. Seine Art von konservativem Denken war vor allen Dingen durch Realismus und eine gewisse Kälte des Blicks gekennzeichnet. Er teilte mit den Normalkonservativen die Wahrnehmung der Krise, und gelegentlich wandelte ihn Sorge vor der Zukunft an, aber ihm fehlte das Resignative oder er wußte es zu beherrschen. Wenn er sich überzeugt hatte, daß eine Änderung nötig war, vollzog er sie, auch mit harten Schnitten, die die Überlieferung kappten.

Bismarck hat den Konservativen eine klarere Einsicht darein vermittelt, daß das Bewahren als solches keine Leitlinie politischen Handelns sein kann, ebensowenig wie das tatenlose Zuwarten. Hermann Wagener, zeitweise enger Berater Bismarcks und einer der bedeutenden konservativen Denker des Kaiserreichs, brachte das auf die Formel: "Konservative Gesinnung ist etwas Höheres und Tieferes als der kleinmütige Wunsch, das, was man hat, möglichst langsam zu verlieren."

Damit ist eine Akzentverschiebung vollzogen gegenüber dem landläufigen Bild des Konservativen als einem, der auf das vertraut, was von selbst kommt. Die Möglichkeit, der Verantwortung dadurch zu entgehen, daß man sich mit einer übermächtigen Wirklichkeit entschuldigt, die das Handeln beschränkt, wenn nicht unmöglich macht, ist verstellt. Es sind zwar nicht alle Handlungsweisen in allen Situationen möglich, es stellt sich immer die Frage, ob man im Sinne oder gegen die Gesetze der Wirklichkeit eingreift, aber das Wort "Entscheidung" erhält endlich seinen gebührenden Rang für das konservative Denken.

Der entschiedene Mensch gehörte für die heidnische Antike wie für das Christentum zu den erzieherischen Idealen; aretē bedeutete für die Griechen auch, daß die "Vorzüglichkeit" gemessen wurde an der Entschlossenheit des Mannes; die Anziehungskraft der frühen Kirche war auch Folge des Ruhms der "Zeugen", der Märtyrer, die an ihrer Glaubensentscheidung trotz Folter und Tod festhielten. Daß Entscheidungsflucht als Feigheit zu betrachten sei und insofern als verächtlich, war niemals strittig. Wer, nach der berühmten Formulierung von Donoso Cortés, sogar die Frage "Christus oder Barrabas?" mit einem Kompromiß oder dem Antrag auf Vertagung zu lösen sucht, taugt nur noch als Beispiel für Dekadenz, die im Ruhebedürfnis wurzelt und damit der Zersetzung des lebendigen Zusammenhangs Vorschub leistet.

Der Unentschiedene begreift nicht mehr, daß jede echte Entscheidung auf einem "Akt des Verstandes" beruht, "der die Notwendigkeit des Wagens zum Bewußtsein bringt und durch sie den Willen bestimmt". Die Formulierung stammt aus der Kriegslehre von Clausewitz, und dieser Bezug ist aufschlußreich, weil der Krieg ein Ernstfall ist und der Ernstfall der cas réel, der "wirkliche Fall". Hier zeichnet sich mit besonderer Schärfe ab, was ist und was nicht und welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, welche nicht. Bedingungen sind erkennbar, aber niemals vollständig; die Entscheidung birgt immer das Risiko des Scheiterns, aber sie ist unvermeidlich.

Wie jede Handlung, kann der Konservative auch diese an Erfahrungen orientieren, aber die Erfahrung belehrt ihn doch nicht über Erfolg oder Mißerfolg seiner Entscheidung. Insofern bedarf er der Kühnheit. Die findet man sonst nicht im Tugendkatalog des konservativen Menschen. Aber sie ist die notwendige Ergänzung jener Beharrungskraft, die ihn unter normalen Umständen auszeichnet. Sie ist auch ein Ausdruck von Verantwortungsbereitschaft, jedenfalls gleichweit entfernt von der Neigung, alles treiben zu lassen, wie von der Annahme, man könne Richtung und Geschwindigkeit des Stroms der Geschichte bestimmen.

De Gaulle, der im 20. Jahrhundert den "Steuermann" sehr überzeugend verkörperte, hat früh begriffen, wie wenig man in ruhigen Zeiten mit diesem Typus anzufangen weiß. Er eckt an, er neigt zu einer - von konservativer Seite unerwarteten - rebellischen Haltung und findet keine Gelegenheit, um seine Tugenden zu erproben. Erst in der Stunde der Gefahr begreifen alle, daß "man sich nur auf etwas stützen kann, das Widerstand leistet".

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Die vierte Folge dieser JF-Serie lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe 33/07 am 10. August.

Foto: Carl Spitzweg, Der strickende Vorposten (Öl auf Leinwand, um 1860): Krieg ist ein Ernstfall, der zur Entscheidung zwingt


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