© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/07 27. Juli / 03. August 2007

Schutzengel des Vaters
Zum Hundertsten: Die erste Biographie über Lucia Joyce
Harald Harzheim

Letztlich blieb sie allen ein Rätsel. Der Analytiker C. G. Jung glaubte in ihrem Fall an Schizophrenie, wollte sich aber nicht festlegen. Andere Psychiater orakelten über schwere Neurosen, während ihr Vater James Joyce keine dieser unzähligen Diagnosen akzeptierte.

Aber woran litt sie nun? Kaum ein James-Joyce-Biograph, der zu dieser Frage nicht Stellung genommen hätte. Die Erklärungen reichen von der Biochemie bis zum physischen Mißbrauch. Carol Loeb Shloss, Verfasserin der ersten Lucia-Joyce-Biographie, läßt sich dagegen auf keinerlei Ursachenforschung mehr ein. Sie schildert Lucia Joyce (1907-1982) als kongeniales Kind des berühmten Vaters. Die schon ihren Namen dem Umstand verdankt, daß James Joyce permanent von Erblindung bedroht war: Lucia, nach der Schutzheiligen der Augenkranken benannt, sollte sein Schutzengel sein.

Im Alter von 17 Jahren publizierte sie einen Essay über Charlie Chaplin, analysierte dessen filmische Entwicklung mit Vergleichen zum Kasperle- und Marionettentheater. In Paris beeindruckte sie als Ausdrucks-tänzerin und agierte 1926 in dem Märchenfilm "La Petite marchande d'allumettes" von Jean Renoir. Zudem schrieb sie einen Roman und illustrierte zwei Bücher.

Aber ihre Karriere endete so schnell wie sie begann. Zu sehr litt Lucia Joyce unter dem Druck ihrer eifersüchtigen Mutter. Eifersüchtig auf die enge Bindung an den Vater, der sie vergötterte. Die Zeitung Daily Telegraph verglich beider Beziehung mit der von Ödipus und Antigone.

Nach einer unglücklichen Liebe zum jungen Samuel Beckett brach Lucias' psychische Erkrankung durch. Spätestens jetzt trat nicht nur die Ähnlichkeit mit der Seelenstruktur ihres Vaters, sondern auch ihr seltsam miteinander verwobenes Schicksal zutage. Während sie psychisch verfiel, wuchs das Spätwerk des alternden Joyce, "Finnegans Wake". Dieses düstere Buch aus kryptischen Wortschöpfungen ist zugleich das Grabmal einer unlösbaren Symbiose zwischen beiden. Erinnert an Poes "Ovales Porträt", wo das Bildnis einer Frau während des Malprozesses an Lebendigkeit gewinnt, während die des Modells schwindet. "Willst du neues Material für dein Work in Progress?" fragte Lucia ihren Vater, "Vielleicht kann ich dir etwas Neues liefern?" Und James Joyce nahm die Einladung an. "Finnegans Wake" spiegelt Tanz und Leben von Lucia in unzähligen Facetten; sie selbst ist in mehreren Figuren des Romans reinkarniert. Im realen Leben kam sie in psychiatrische Anstalten und Sanatorien, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen sollte.

Carol Loeb Shloss, Professorin für englische Literatur in Stanford, ist über 600 Seiten lang auf den Spuren der unterschätzten Joyce-Tochter gewandert. Das gelingt für die erste Lebenshälfte nur begrenzt. Da viel Briefmaterial vernichtet wurde, bleibt oft nur die Rekonstruktion der Lebensumstände, des kulturellen Umfelds von Lucia. So erfahren wir aus ihrer Zeit als Tänzerin in Paris viel über die Tanzszene der späten 1920er, aber wenig über die junge Heldin. Gewiß gab es nur wenige Quellen, aber auch manche Anekdote, die sich in diversen James- und Nora-Joyce-Biographien versteckt, fand keine Verwendung. Warum nicht?

Zudem ist die deutsche Ausgabe gegenüber dem englischen Original beträchtlich gekürzt. Dennoch ist die Lektüre unbedingt zu empfehlen. Danach liest sich "Finnegans Wake" nicht mehr als sterile Stilübung, sondern gibt sich als düsterer Sprach-ozean zu erkennen, in dem Lucia für immer versank.

Carol Loeb Shloss: Lucia Joyce - Die Biographie der Tochter. Knaus Verlag, München 2007, gebunden, 654 Seiten, 29,95 Euro

Foto: Lucia (hinten links) mit ihren Eltern Nora und James Joyce: Unlösbare Symbiose zwischen Tochter und Vater


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