© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Der lange Weg in den Widerstand
Geschichtspolitik: Kampf um die Deutung der Motive der Verschwörer
Günther Gillessen

In der ganzen elenden Geschichte der NS-Zeit gibt es nur ein Ereignis, den 20. Juli 1944, auf das die Deutschen mit Dank, und über alle Trauer um die Opfer hinweg, sogar Freude blicken können: daß sich mehrere Hundert ihrer Besten zusammengefunden hatten, ihr Leben zu wagen, um das Land von der Herrschaft seiner Schlechtesten zu befreien.

In der Ereignisgeschichte erscheint der 20. Juli 1944 als ein Tag des Mißlingens. Fast alle Beteiligten verloren ihr Leben, wenige entkamen. Der aber, dessen Leben und Herrschaft der Anschlag gegolten hatte, überlebte, und mehr noch, schaffte es abermals mit einer keinem mehr zu erklärenden persönlichen Wirkung, daß der längst verlorene Krieg fortgeführt wurde und bis auf den letzten Quadratmeter deutschen Bodens ausgekämpft werden mußte - die äußerste Form von Vaterlandsverrat, die es geben konnte. Und noch ein Dutzend Jahre danach wurde er von einem Teil der Überlebenden nicht als der Verrat begriffen, der er war.

Wie war dies möglich? Warum brauchte es so lange, den Verschwörern einen Ehrenplatz in der Erinnerung der Nation zu verschaffen? Und was geht heute in den Köpfen einiger Historiker vor, die meinen, einige Verschwörer im Zentrum der Militär­opposition als Komplizen der Kriegsverbrechen hinter der Ostfront entlarven zu können? Natürlich waren sie Mitwisser. Mitwissen erlangt zu haben, war einer der stärksten Gründe dafür, sich der Verschwörung anzuschließen. Aber Mittäterschaft? In welcher Weise?

Die Deutungen der Motive der Verschwörer durch Dritte haben sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten mehrmals verändert, und hat deutlich damit zu tun, wie sie das "Dritte Reich" erlebt haben oder wie sie es sich im Nachher verstehen. Das Verständnis des 20. Juli ist ein Reflex des jeweiligen Verständnisses der NS-Diktatur. Verständnismängel hier führen zu Verständnismängeln dort. Hitler als Verfechter nationaler deutscher Interessen zu verstehen, macht die Verschwörer zu Verrätern. Je nachdem, in welchem Grade man die Wehrmacht mit dem "System" der Diktatur identifiziert, verändern sich auch die Fragen an die Motive der Verschwörer. Hingegen anzunehmen, nach den ersten wirtschafts- und außenpolitischen Erfolgen Hitlers seien auch die letzten jener zwei Drittel Deutscher, die 1932 Hitler nicht gewählt hatten, zu ihm übergelaufen und "eigentlich doch alle mitgemacht" hätten, dann wird man auch in der Verschwörung fündig werden, wenn man nur richtig danach sucht. So wird aus dieser Richtung behauptet, die Verschwörer in der Heeresgruppe Mitte hätten erst dann ihren Widerspruch zu Hitlers Kriegsführung entdeckt, als sie im Herbst 1941 merkten, daß der Rußlandfeldzug mißlinge, aber nicht aus Widerspruch wegen der Kriegsverbrechen in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten. Die Unterscheidung zweier Beweggründe ist möglich, die Ausschließung eines von ihnen nicht beweisbares, also auch nicht behauptbares Wissen. Doch selbst wenn man es gelten lassen könnte, warum sollte einer nur noch gewaltsam möglichen Erzwingung des Abbruchs eines verfehlten Feldzugs und der Abwehr voraussehbarer Übel für das eigene Volk nicht für sich allein hinreichen, auch als moralisch geboten anerkannt zu werden? Unabhängig davon, daß dies immerhin mittelbar zur Einstellung der Kriegsverbrechen der SS-Einsatzgruppen geführt hätte?

Andere, jüngere Historiker wollen in jüngerer Zeit Hinweise gefunden haben, daß Verschwörer in der Heeresgruppe Mitte, sogar Henning von Tresckow selbst, sich vom Schreibtisch aus an Kriegsverbrechen beteiligt hätten. Es fällt schwer zu glauben, daß ausgerechnet Tresckow Kriegsverbrechen gutgeheißen oder sich an ihnen gar beteiligt hätte. Schließlich war er, wie Peter Hoffmanns jüngste Studie zum Widerstand belegt, die zentrale Figur der Planung und Organisation und ständiger Motor des militärischen Widerstands, schon bevor 1943 Claus Schenk Graf von Stauffenberg zur Widerstandsbewegung hinzustieß. Jeder Versuch, Tresckows eine Beteiligung an Kriegsverbrechen zu beweisen, hätte es mit der Schwierigkeit zu tun, selbst besser als der zäheste, ungeduldigste und aktivste der Verschwörer zu wissen, welche Dokumente er nicht hätte abfassen oder abzeichnen dürfen. Tresckow hat seinen Untersuchungsrichtern etwas voraus, was sie nicht einholen können: Umstände zu kennen, die nicht in den Akten stehen, und dafür mit einem Ernst zu bürgen, den sie nicht überbieten können. Er bürgte mit dem eigenen Leben.

"Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, daß wir recht gehandelt haben." In diesen Worten überliefert Fabian von Schlabrendorff das letzte Gespräch mit Henning von Tresckow in der Nacht nach dem Attentat. In dieser Nacht entschied Tresckow ganz nüchtern, in ein paar Stunden an der Front "fallen" zu müssen, damit sein Tod nicht als Selbstmord erkannt werde und damit die Aufmerksamkeit der Häscher auf seine Freunde lenke, und damit sie nicht mit Folter die Namen von Mitverschworenen aus ihm herauspressen könnten.

Mancher Zeitgenosse erinnert sich an die Rundfunknachrichten jenes ersten Tages über die wunderbare "Errettung" Hitlers vor dem Anschlag einer "kleinen Clique ehrgeiziger Offiziere" und über ihre standrechtliche Erschießung, auch daran, wie die eigene Umgebung damals reagierte: die einen mit Empörung über den schurkischen Anschlag auf den "Führer", andere mit stummem, vieldeutbarem Entsetzen, oder im vertrautesten Kreise auch: "Wäre es doch gelungen". Wer so sprach wußte, was ihn zu erwarten hätte, wenn ein falsches Ohr mitgehört hätte.

Gewöhnliche Soldaten konnten kaum einschätzen, wie Offiziere Hitlers bewußte Demütigung der gesamten Wehrmacht empfanden, als er die Abschaffung des international üblichen militärischen Grußes befahl und ihn durch den Partei- und SS-Gruß mit erhobenem Arm ersetzte, das gesamte Ersatzheer dem Befehl des SS-Führers Heinrich Himmler unterstellte und den angeklagten Offizieren das ihnen zustehende ordentliche Militärstrafverfahren verweigerte - alles drei bolschewistisch anmutende Maßnahmen.

"Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen ..." Goebbels' Propaganda hämmerte sofort los: Ehrlosigkeit, Verrat, Heimtücke, Treulosigkeit, Stoß in den Rücken der in schweren Abwehrkämpfen gegen den Bolschewismus stehenden Truppe. An den "Dolchstoß" von 1918 und die Meuterei der Marine wurde, wenn wir uns nicht irren, aus naheliegenden Gründen nicht erinnert.

Freilich entbehrte die wütende Beschimpfung der Verschwörer nicht einer gewissen Plausibilität, solange nichts Näheres über sie mitgeteilt wurde. Seit es an allen Fronten nur zurückging, war Hitlers Angriffskrieg in einen verzweifelten Abwehrkrieg und in allen Lagern in Angst vor dem Einbruch von Stalins fürchterlicher Roter Armee umgekippt.

Dies blieb noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg die Matrix der Verständigung bei einem großen Teil ehemaliger Offiziere, die mit der Frage zurecht kommen mußten, warum sie nicht selbst bei den gleichen Schlußfolgerungen wie die Verschwörer angekommen waren. Das Argument, die Ostfront halten zu müssen, taugte nach Stalingrad und Kursk nur für das Ostheer und 1945 auch die Marine bei der Rettung der Flüchtlinge über die Ostsee. An den anderen Fronten hatten trotz der britisch-amerikanischen Casablanca-Forderung der bedingungslosen Kapitulation die herkömmlichen Vorstellungen von Gehorsam und Treubruch jeden Sinn verloren.

Bis in die späten fünfziger Jahre, noch lange nach Erscheinen der ersten, aufsehenerregenden Bücher über den 20. Juli von Hans Rothfels, Fabian von Schlabrendorff, Eberhard Zeller, Annedore Leber, Hans Gisevius, spielte der Soldateneid eine verwirrende Rolle. Die Reichswehr war sogleich beim Tode Hindenburgs auf die Person Hitlers eingeschworen worden. Doch nicht im Eid auf Hitler persönlich lag das eigentlich Neue. Denn auch die Eidesformeln früherer Zeiten hatten nicht dem Staat gegolten, sondern dem Staatsoberhaupt als Oberbefehlshaber. Der Bruch von 1934 mit dem herkömmlichen Soldateneid bestand im Wegfall seiner zweiten Hauptsache, der Verpflichtung des Staatsoberhauptes auf das Recht und das Sittengesetz. Damit war der neue Eid in sich ungültig. Denn niemand kann "bei Gott" schwören, jeglichem Befehl, auch Befehlen zum Unrecht, zu gehorchen. Aber wer hatte dies damals den Soldaten im Klartext erklärt? Sich nach dem Krieg auf die Bindung an den Eid zu berufen, war Irrtum und gewiß auch Selbstschutz, um nicht bei der "felsenfesten Überzeugung" Tresckows, Stauffenbergs und der anderen vom rechten Handeln anzulangen, die man selbst verfehlt und vermutlich auch gescheut hatte.

Auch den Verschwörern war ihr Entschluß nicht leicht gefallen. Die meisten unter ihnen, darunter alle, die aus der konservativen Beamtenschaft und dem Offizierskorps stammten, waren einen langen Weg gegangen. Von Demokratie hielten sie wenig. Der Weimarer Republik und den demokratischen Parteien der Mitte trauten sie nicht zu, die drängendsten wirtschaftlichen und mit Versailles verknüpften Probleme des Landes zu lösen. Hitler schien die energische Führung und die Kraft zur Wende zu besitzen, die sie für erforderlich hielten. Die politischen Biographien eines großen Teils der Verschwörer begannen in dieser Nachbarschaft reaktionärer Ideen, nationalistischer Revisionspolitik, Erneuerungs-Hoffnungen oder romantischen Vorstellungen nationaler Gemeinschaft statt Klassengesellschaft und einer Nobilität des Geistes. Solche Motive finden sich in den politischen Anfängen vieler Mitglieder der Verschwörung, exemplarisch auch bei Stauffenberg. In jedem einzelnen Falle war die Entfernung ein Prozeß der Enttäuschung.

Sie mußten mit dieser Vergangenheit nicht brechen, um den Weg in den Widerstand zu finden. Denn dieselben Erwartungen und Vorstellungen, die sie anfänglich die Nähe von Hitlers Bewegung suchen ließen, führten sie wieder davon weg. Es waren die eigenen moralischen Vorstellungen von Anstand, Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit, von Kultur und Christentum, die aus ihnen schließlich die gefährlichsten Feinde Hitlers machten.

In den siebziger und achtziger Jahren fiel zwar nicht mehr die ganze Welt über die Verschwörer her. Nun begann der Wind aus ganz anderer Richtung gegen sie zu blasen. Die 68er verstanden sich auf das "Entlarven" von Faschisten. Die nähere Beschäftigung mit Einzelbiographien enthüllte ihnen, daß es den "Helden des Widerstands" an demokratischer Zuverlässigkeit gefehlt hatte. Dem ließ sich auch weniger drastisch, in abwägend nörgelndem Ton zustimmen. Schmähung war es gleichwohl, nur mit anderer Begründung. Doch war gar nicht zu bestreiten, daß der 20. Juli uneingeschränkt anschlußfähig war zur Arbeit des Parlamentarischen Rates, der ja ausdrücklich auch nicht zu "Weimarer Verhältnissen" zurückkehren wollte.

In Wahrheit macht die intensivere Erforschung der langen Wege der einzelnen Mitglieder des 20. Juli bis an die Stelle, an der sie beschlossen, sich am Sturz Hitlers zu beteiligen, diesen Entschluß nur noch imponierender als jede pauschalierende Verherrlichung.

Foto: In diesem Raum im Bendlerblock erschoß sich Generaloberst Ludwig Beck am Abend des 20. Juli 1944, Innenhof des Bendlerblocks, im Hintergrund die Bronzefigur, Außenfassade im Berliner Bendlerblock


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