© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Deutschlands Rolle als "heilig Herz der Völker"
Kurz vor dem Endsieg: Die außenpolitischen Vorstellungen der Verschwörer des 20. Juli
Stefan Scheil

Außenpolitisch haben wir ins Nichts gehandelt", sagte Adam von Trott zu Solz in einem der Verhöre nach dem 20. Juli. Jeder Versuch, von den Alliierten bestimmte und verbindliche Zusicherungen über die künftige Außenpolitik gegenüber Deutschland zu erfahren, sei letztlich ergebnislos verlaufen. Für den Staatsstreich ließ sich außenpolitisch keine vorzeigbare Rückversicherung ermitteln. Die Kriegsgegner hielten sich jede Möglichkeit offen, das zwangsläufig folgende Chaos nach einem Tod des deutschen Staatsoberhaupts nach Belieben zu nutzen. Das bedeutete dennoch keinen Verzicht auf den Plan. Für von Trott selbst und nicht nur für ihn stand 1944 sein Bild von Deutschlands Ehre im Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive lohnte sich der Aufstand dennoch, auch ohne Zusicherungen, vielleicht sogar ohne Erfolg.

Von Trott schilderte den SD-Beamten jedoch, dies hätte so nicht für alle Verschwörer gegolten. In der Tat machten sich manche über die außenpolitischen Folgen und Möglichkeiten nach einem Putsch gegen Hitler ihre Gedanken. Eine fast rein ästhetische Handlungsweise ohne Rücksicht auf die Folgen, wie von Trott sie anstrebte, möglicherweise begleitet vom Verzicht auf jeden weiteren militärischen Widerstand gegen die westlichen Kriegsgegner, wie es im Kreisauer Kreis Helmuth James Graf von Moltkes angedacht worden war, war eine Ausnahme, nicht die Regel. Insbesondere Graf Stauffenberg sei fest und sogar unbelehrbar der Ansicht gewesen, "nach der gesamteuropäischen Kriegslage müsse eine Verhandlungswilligkeit der Briten und Amerikaner unbedingt vorliegen", sagte von Trott aus.

Stauffenberg sagte dies im Frühjahr 1944, als die Rote Armee dem deutschen Staatsgebiet immer näher rückte, die amerikanischen Truppen in Italien seit Monaten ergebnislos festhingen und von einer Invasion in Frankreich noch nicht die Rede sein konnte. Die Sowjets standen davor, ganz Deutschland und Europa zu überrennen und Stalins langgehegte Vision einer Sowjetisierung des Kontinents zu verwirklichen. Den großen Linien der noch von Lenin und Trotzki entworfenen Politik folgend, hatte der Kremlchef 1932 auf die Machtergreifung des "kleinbürgerlichen Nationalismus" in Berlin hingearbeitet, damit ein folgender Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten der sozialistischen Revolution eine neue Chance zur Ausdehnung geben würde. Zwar erwies sich die Regierung Hitler, deren Ernennung auch Stauffenberg 1933 bei einer spontanen kleinen Demonstration mitfeierte, aus Stalins Sicht als Fehlbesetzung. Die neuen deutschen Machthaber wollten gerade nicht jenen militärischen Konflikt, den man in Moskau innerhalb von spätestens zwei Jahren erwartet hatte. Es bedurfte einer langen Reihe von Ereignissen und der Unterstützung eines ganz anderen urwüchsigen Nationalismus, nämlich des polnischen, bis sich schließlich für Josef Stalin die Möglichkeit ergab, seinen Teil zur britischen Kriegserklärung an Deutschland beizutragen.

Dennoch schienen den Verschwörern des 20. Juli und weiten Teilen des konservativen Spektrums in Deutschland die Möglichkeiten für einen Verhandlungsfrieden mit den Westmächten doch eigentlich gegeben zu sein, wenn nur die Reizfigur Hitler beseitigt und die Partei entmachtet wäre. Dies war ein Irrtum, aber er kam nicht von ungefähr. Schon seit der Vorkriegszeit wurden die deutschen Hitlergegner durch die Kreise um Winston Churchill mit gezielten Desinformationen versorgt, die für den Fall des Staatsstreichs goldene Brücken in Aussicht stellten. Insbesondere Carl Friedrich Goerdeler hatte bereits seit dieser Zeit Kontakte zu jener parteiübergreifenden Pressure-Group, die Winston Churchill systematisch als neuen Premier aufbaute und gleichzeitig durchblicken ließ, man werde einer anderen deutschen Regierung als den Nationalsozialisten durchaus große Zugeständnisse machen.

Einige Zeit nach Kriegsausbruch entwarfen Ludwig Beck, Carl Friedrich Goerdeler, Ulrich von Hassell und Johannes Popitz deshalb eine erste Regierungserklärung für den Fall eines gelungenen Putschs, die sich kämpferisch und optimistisch gab: "Die (neue) Deutsche Regierung ist entschlossen, den Krieg, in den Europa unglücklicherweise gestürzt worden ist, mit aller Kraft weiterzuführen, bis ein Friede gesichert ist, der den Bestand, die Unabhängigkeit, die Lebensbetätigung und die Sicherheit des deutschen Reichs und Volks gewährleistet und gegenüber Polen im wesentlichen die alte Reichsgrenze wiederherstellt."

Tatsächlich stand Goerdeler trotz des Kriegszustands weiterhin mit dem offiziellen diplomatischen Chefberater der englischen Regierung, Robert Vansittart, in Kontakt, der diesen Widerstandskreis mit der Aussicht auf Wiederherstellung der "alten Reichsgrenze im Osten", also der von 1914, bei der Stange halten konnte. Vansittart hatte gerade am 13. Februar 1940 eine Nachricht an Goerdeler übermitteln lassen, diese Anerkennung der alten Reichsgrenze durch England sei gefährdet, wenn nicht bald gehandelt, das heißt geputscht werde.

Von seiner wirklichen Meinung, die er gerade zu dieser Zeit in seinem Memorandum über "The Nature of the Beast" drastisch verkündete, man müsse den ganzen deutschen Charakter ändern und die preußische Militärkaste ausrotten, dürfte Vansittart bei Goerdeler nichts erwähnt haben. Auch die Vertreibung der Sudetendeutschen hatte er im Vormonat bereits intern gefordert, wie überhaupt derartige völkerrechtswidrige Kriegsziele von Kriegsbeginn an ihren prominenten Platz in den Planungen der deutschen Kriegsgegner hatten und keine Folge nationalsozialistischer Verbrechen seit 1939 sind.

Stellt man Vansittarts wirkliche Absichten seinen Nachrichten an den Goerdeler-Kreis gegenüber, so wird das Ausmaß deutlich, in dem er diesen Kreis manipulierte. Dies ging so weit, daß sich der Goerdeler-Kreis dazu hinreißen ließ, die letzen möglichen Verhandlungen vor dem heißen Kriegsausbruch im Frühjahr 1940 zu untergraben. Man versuchte gegenüber der amerikanischen Regierung die deutsche Seite als von vornherein verhandlungsunfähig darzustellen. Nach einem Gespräch des amerikanischen stellvertretenden Außenministers Sumner Welles mit dem deutschen Staatschef ergab sich für ihn ein anderes Bild.

Goerdeler und Stauffenberg hatten im Frühjahr 1944 einige persönliche Gespräche unter vier Augen, von denen andere ganz bewußt ausgeschlossen worden waren. Inwieweit Stauffenberg hier von Goerdeler in seine Kontakte nach England und die vermeintlichen Zusicherungen von dort eingeweiht wurde, kann niemand wissen. Wahrscheinlich ist es in jedem Fall. Das zeigt die lange Liste der Verhandlungsgrundsätze gegenüber den Alliierten, die Stauffenberg aus der Perspektive von Mai 1944 für den Fall des erfolgreichen Staatsstreichs aufstellte. Sie gaben immer noch Vansitttarts Desinformationen von 1940 wieder und liefen beinahe auf einen Siegfrieden hinaus.

Aufgeführt waren unter anderem: die sofortige Einstellung des Luftkrieges; der Verzicht auf die alliierten Invasionspläne; Sicherung der Verteidigungsfähigkeit im Osten bei dem Angebot der Räumung aller besetzten Gebiete im Norden, Westen und Süden; keine alliierte Besetzung Deutschlands; eine freie Regierung mit eigener, selbstgewählter Verfassung; Behandlung Deutschlands als gleichberechtigter Verhandlungspartner bei allen folgenden Konferenzen; Kriegsverbrecherprozesse nur unter deutscher Regie. Territorial wollte Stauffenberg die Reichsgrenze von 1914 im Osten gesichert wissen; Österreich und die Sudetengebiete als Teil des Reichs; Autonomie für Elsaß-Lothringen; Zurückgewinnung der deutschen Teile Südtirols einschließlich Bozen und Meran; dazu gesellte sich als allgemeines Ziel: Wiedergewinnung von Ehre, Achtung und Selbstachtung.

In einer ausführlicheren Denkschrift, die Stauffenbergs Einfluß zugeschrieben wird, wurde auch noch ein möglichst geschlossenes deutsches Kolonialreich in Afrika gefordert sowie die natürliche Führungsrolle Deutschlands in ganz Europa betont. Schließlich wurde die künftige Rolle der angelsächsischen Mächte in der Weltpolitik in einer wirklich denkwürdigen Formulierung angesprochen: "Im übrigen bleibt dem englischen Empire unter Neuordnung des Kolonialbesitzes zugunsten Deutschlands ebenso wie den Vereinigten Staaten selbst vollkommene Freiheit, ihre Politik ihren Bedürfnissen entsprechend einzurichten."

Ohne jede Ironie vorgetragen, war dies wirklich ein äußerst freundliches Zugeständnis gegenüber den künftigen Siegermächten, die im Frühsommer 1944 vorwiegend das Bedürfnis verspürten, Deutschland den Todesstoß zu versetzen und stets betont hatten, kein anderes Kriegsende als die bedingungslose Kapitulation und die vollständige Besetzung Deutschlands zu akzeptieren. Daraus lassen sich mindestens zwei Schlußfolgerungen ziehen: Jeder Vorwurf an den Kreis um Stauffenberg, er hätte Deutschland bedingungslos den Alliierten ausliefern wollen, entbehrt der Grundlage. Andererseits: Die außenpolitischen Vorstellungen der Verschwörer entbehrten ebenfalls jeder Grundlage. Man verhielt sich, als seien die Machtfragen und ideologischen Differenzen der Kriegsparteien per Handschlag ehrlicher Männer zu lösen. Übrig blieb für diesen Fall dann lediglich der Konflikt mit dem Stalinismus, bewaffnet auszufechten. Tatsächlich war Winston Churchill einem solchen Feldzug nach Osten auch nicht völlig abgeneigt, doch sollten deutsche Einheiten darin nicht viel mehr als die Rolle von Kanonenfutter unter englischem Kommando spielen, nachdem die Dinge in Deutschland entsprechend eingerichtet worden wären.

Es muß Spekulation bleiben, wie man im Umkreis der Verschwörer des 20. Juli reagiert hätte, hätte man den Umfang der Verhandlungsangebote gekannt, die den Alliierten seit dem 1. September 1939 von deutscher Seite immer wieder gemacht worden waren. Sie hatten ebenfalls den umfassenden Rückzug aus besetzten Gebieten umfaßt, sie beinhalteten die Absage an Weltpolitik und Kolonien und waren - horrible dictu - eigentlich jederzeit entgegenkommender gewesen als das, was nun 1944 von Stauffenberg formuliert worden war. In den Augen Stauffenbergs stellte Deutschland offenbar weiterhin in erster Linie Hölderlins "heilig Herz der Völker" dar, dem man die ihm zustehende Rolle international nicht im Ernst verweigern könnte. Dieses Herz war für ihn entweiht, aber seine Rettung blieb letztlich sowohl möglich als auch eine Frage allein der deutschen Ehre, die sonst niemand etwas anging. Nichts könnte weiter von den Tatsachen entfernt sein, als die Behauptung der Gedenkstätte deutscher Widerstand über die außenpolitischen Vorstellungen der Verschwörer. Sie seien "sich im klaren gewesen, daß Deutschland den moralischen Anspruch auf eine Führungsrolle in Europa endgültig verwirkt" habe.

Diese Einstufung und viele andere mehr resultieren in erster Linie aus den Anstrengungen der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Geschichtspolitik, die sich in ihren Ausstellungsführungen zur NS-Außenpolitik gelegentlich zu besonderen Blüten auswachsen. Das zeigt sich etwa an der in der Gedenkstätte deutscher Widerstand leichterhand vorgetragenen Begründung für die Kriegserklärung an die USA, "als 1940 der Angriff auf London gescheitert war, beschlossen die Nazis, Chicago zu besetzen". Außenpolitisch handelt das Gedenken an den deutschen Widerstand ebenso ins Nichts wie die Verschwörer des 20. Juli selbst.

Foto: In den Boden eingelassene Gedenktafel mit dem Text des Kunsthistorikers Edwin Redslob, Treppenhaus im Berliner Bendlerblock, Fenster zum Innenhof des Berliner Bendlerblocks


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