© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Preußische Patrioten
Deutsche Komplexe: Für die Helden des 20. Juli bleibt nur ein Nischenplatz
Doris Neujahr

Das Vorhaben des Hollywood-Stars Tom Cruise, einen Film über Stauffenberg zu produzieren und die Hauptrolle zu übernehmen, hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst: frohe Erwartung, politischen Widerspruch, auch Eifersucht. Nüchtern betrachtet, verweist die Entscheidung von Cruise auf das Wirkungspotential, das diese historische Figur in sich birgt.

Der weltweite Erfolg Hollywoods beruht darauf, in unterschiedlichen Gewändern allgemeinverständliche, universelle Archetypen zu variieren. Die unerläßliche Reduktion und Umformung des historischen Materials wird den Film-Stauffenberg vom historischen unterscheiden und seine Beweggründe womöglich eher verdunkeln als erhellen. Andererseits wird die Transformation das Charisma hervorheben, das sämtliche Zeitzeugen an Stauffenberg bemerkten, sonst ergäbe das Filmprojekt ja gar keinen Sinn.

Der Wehrmachtsoffizier und einstige George-Jünger also als Wiedergänger aus mittelalterlichen Heldenepen, der Schwert und Leier gleichermaßen beherrscht, der stark, klug und tapfer ist, über Edel- und Opfermut verfügt, der Bewährungsproben durchläuft, die ihn läutern, verändern, bessern, und der sich schließlich in die Drachenhöhle des Führerhauptquartiers begibt, um das Ungeheuer zu erlegen?

Das ist in der Tat vorstellbar. Stauffenberg weist entsprechendes Starpotential auf, das durch sein Äußeres zusätzlich gesteigert wird. Für den Beau Tom Cruise, der einen Ruf zu verteidigen hat, dürfte nicht unerheblich sein, daß der historische Stauffenberg über beträchtlichen Sex-Appeal verfügte.

Desto bemerkenswerter ist es, daß er in Deutschland zu keiner Zeit eine Identifikationsfigur war und auch heute keine ikonische Wirkung entfaltet. Die alljährlichen rituellen Feierlichkeiten am 20. Juli können nicht verdecken, daß er im bundesdeutschen Bewußtsein oder Unterbewußtsein keinen relevanten Platz einnimmt.

Der allgemeinste Grund dafür ist dieser: Die modernen Gesellschaften sind konsumorientierte Massendemokratien. Das militärische und patriotische Ethos, aus dem heraus Stauffenberg handelte, liegt quer zum allgemeinen Hedonismus. Um heute einen patriotischen Militär als Vorbild anzuerkennen, bedarf es - nicht nur in Deutschland - historischer Empathie und Abstraktionsarbeit. Die ist, wie ein Blick über die Grenzen zeigt, zwar grundsätzlich möglich, in Deutschland aber aus historischen Gründen verbaut. Die Legalisierung des dummen Spruchs "Soldaten sind Mörder", der dazu dient, einen bequemen Hedonismus und Opportunismus ethisch zu überhöhen, gilt als höchster Ausweis der Meinungsfreiheit. Die Schlußfolgerung, die Hannah Arendt aus den Tagebüchern Ernst Jüngers zog: um im "Dritten Reich" anständig zu bleiben, reichte es eigentlich aus, den Ehrenkodex des preußischen Offiziers zu befolgen, ist für den Gegenwartsdeutschen nicht mehr nachvollziehbar.

Erst recht nicht mehr nachvollziehbar sind die Skrupel, die Stauffenberg und andere Verschwörer wegen ihres auf Hitler geleisteten militärischen Eides umtrieben. Gleiches gilt für die unter den Verschwörern wieder und wieder erörterte Frage, ob man tatsächlich riskieren dürfe, mit dem Attentat ein militärisches Chaos und den Zusammenbruch der Fronten auszulösen, Deutschland damit den Feindmächten preiszugeben und selber das Odium des nationalen Verrats auf sich zu ziehen. Höchstens als Beleg für die Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust wird der Gedankengang wahrgenommen.

Die Inspirationen, die Stauffenberg von Stefan George empfing, sind einer Gesellschaft, die ihre kulturellen Fixpunkte in der Massen- und Markenkultur findet, fremd, wegen ihrer aristokratischen Anmutung sogar verdächtig. Nicht zu reden davon, daß bundesdeutschen Schul- und Studienabsolventen jede Vorstellungskraft abgeht, daß ein junger Offizier - egal, ob Nationalsozialist oder nicht - Hitler wegen der Wiederherstellung der in Versailles beseitigten deutschen Wehrhoheit zunächst einmal nur dankbar sein konnte.

Noch unverständlicher wirkt, wie ein junger Aristokrat, der sich seiner Herkunft und seines Wertes sehr bewußt war, im Angesicht allgemeiner Not die "Volksgemeinschaft" als konkreten Ausdruck sozialer Verantwortung betrachten konnte. Ein historischer Irrtum, natürlich, aber keiner, der zwingend auf eine inhumane Gesinnung schließen läßt.

Es fehlen elementare Kenntnisse über den politischen, kulturellen und geistigen Kosmos, in dem die Verschwörer, zumal Stauffenberg, sich bewegten und handelten. Ein deutscher Filmregisseur, der sich Stauffenberg in historischer Angemessenheit widmen wollte, müßte schnell feststellen, daß er dessen Bilderwelten, Bezüge, Archetypen beim Publikum nicht einmal als historische Erinnerung voraussetzen kann. Als Ausweg bliebe ihm nur die Mischung aus Volkspädagogik und Gesinnungskitsch, der den deutschen Film so belanglos macht.

Die Traditionsbestände, aus denen Stauffenberg schöpfte, wurden nach 1945 abgeräumt, von den Siegern und von den Deutschen selbst, die nun endlich selber einmal auf der Seite der Sieger stehen wollten, wenigstens nachträglich. Zu reden ist also von einer Psychologie der Niederlage, der Stauffenberg noch postum zum Opfer fällt. Um sie zu skizzieren, ein knapper kontrafaktischer Versuch:

Ein erfolgreiches Attentat am 20. Juli 1944 hätte die militärische Niederlage kaum aufgehalten, aber wohl verhindert, daß die Katastrophe total und als solche neben der politischen auch eine geistig-moralische wurde. Die Installierung einer neuen Reichsregierung, die als Sofortmaßnahmen die KZs geöffnet, die Judenverfolgung eingestellt, Partei und Gestapo entmachtet, Verbrecher vor Gericht - vor das Reichsgericht! - gestellt und Friedensverhandlungen eingeleitet hätte - das hätte der Welt und den Deutschen selbst unübersehbar demonstriert, daß Hitler und die deutsche Nation nicht identisch waren.

Ein weiteres Insistieren auf der bedingungslosen Kapitulation und auf harten Friedensbedingungen hätte umgekehrt klargestellt, daß Churchill, Stalin und Roosevelt mit dem antinazistischen einen imperialen Krieg verbanden. Die moralische Hypothek wäre dennoch ungeheuer gewesen, sie hätte Deutschland aber die Chance zur Selbstbehauptung gelassen. Das Verhältnis der Deutschen zur eigenen Geschichte wäre nicht so unrettbar gestört und - soweit das in einer global vernetzten Welt überhaupt möglich ist - selbstbestimmt geblieben.

Diesen moralischen Zweck stellte Henning von Tresckow gegenüber Stauffenberg auch in den Vordergrund: "Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig."

Tresckow sollte nur in einem sehr abstrakten Sinne recht behalten. Dadurch, daß der "entscheidende Wurf" in der Hauptsache mißlang, blieb der deutsche Widerstand politisch und militärisch unwirksam und seine Bemühungen hypothetisch. Damit geriet er selber in den Strudel der Niederlage, die er aufhalten wollte. Sein moralisches Erbe wurde zum Objekt interpretatorischer Willkür und zur Asservatenkammer, aus der sich Politiker nach Belieben bedienen.

Ein Bundesverteidigungsminister, der gemeinsam mit Nato-Kollegen im Hof des Bendlerblocks Kränze niederlegt, sollte bedenken, daß die maßgeblichen Kreise in den USA und Großbritannien über das Mißlingen des Hitler-Attentats frohlockten, weil der Diktator ihnen einen wichtigen Teil ihrer Nachkriegsplanung: die Ausschaltung der alten politischen und militärischen Eliten in Deutschland, ein für allemal abnahm. Das "heilige Deutschland", das Stauffenberg im Moment seiner Hinrichtung anrief, galt den Westalliierten als die Differenz zu ihren eigenen politischen Vorstellungen, die genauso wie Hitler ausgelöscht werden sollte.

Kein aktiver Politiker in Deutschland weiß mehr um solche Fakten und vermag in den ahistorischen Gedenkgesten die fortgesetzte Erniedrigung der Verschwörer wie des eigenen Landes zu erkennen. Auch das ein Beleg dafür, daß nach dem Scheitern des 20. Juli die deutsche Niederlage nur noch eine totale sein konnte.

Der 62jährige Ulrich von Hassell notierte im November 1943, die Situation sei viel schlimmer als 1918, "grade weil es das zweite Mal innerhalb einer Generation ist". Bezeichnend für die Situation der Jungen ist der Schlußmonolog des Kriegsheimkehrers Beckmann im Drama "Draußen vor der Tür", das der 25jährige Wolfgang Borchert 1946 schrieb: "Wohin soll ich denn? Wovon soll ich leben? Mit wem? Für was? Wohin sollen wir denn auf dieser Welt? (...) Gibt denn keiner, keiner Antwort???"

Die Antworten, die gegeben wurden, empfahlen gründlichste Inventur. Der Kommunist Alexander Abusch brachte aus dem mexikanischen Exil sein Buch "Der Irrweg einer Nation" (1946) mit nach Deutschland. Die deutsche Selbstkritik, hieß es da, dürfe sich jetzt nicht mehr auf die Jahre vor und nach 1933 beschränken. "Die Enthüllung aller reaktionären Elemente in der deutschen Geschichte, Literatur und Philosophie, die zu Wegbereitern für Hitler werden und seine Herrschaft begünstigen konnten, ist zur unabdingbaren Verpflichtung geworden. Die ganze verpfuschte Geschichte der deutschen Nation steht zur Kritik in dieser Selbstprüfung, die eine tiefe Selbstreinigung erstrebt."

Einflußreiche Autoren wie der evangelische Theologe Karl Barth und der Philosoph Karl Jaspers äußerten sich ähnlich. Friedrich Meinecke, der alte bürgerliche Historiker, sinnierte in seinem Buch "Die deutsche Katastrophe" (1946) ebenfalls über deren tiefere Gründe und zugleich über einen genuin deutschen Ausweg. Aus dem in Stücke geschlagenen Bismarck-Reich sollte der Pfad zurück "zur Goethezeit" beschritten werden, für Meinecke ein Reich unpolitischer Innerlichkeit. Er forderte seine Leser auf, den Blick "zu den höchsten Sphären des Ewigen und Göttlichen" zu richten, woher es ihnen entgegentöne: "Wir heißen Euch hoffen."

Nach einem Tyrannenmord am 20. Juli wäre das - vielleicht - noch möglich gewesen. Nun aber wurde entsorgt und nahmen die Deutschen beflissen entgegen, was ihnen von den Siegern offeriert wurde. Beide deutsche Staaten wurden die Musterschüler ihrer jeweiligen Systeme. Für den 20. Juli, in dem sich deutsche Traditionen nochmals fortzeugten, bleibt da nur ein Nischenplatz.

Doch besitzt Stauffenberg - und damit kehren wir zurück zu Tom Cruise - auch ein universell verständliches, erotisch grundiertes Pop-Potential, über dessen Aneignung sich das geistig-historische Potential dieser Figur neu erschließen ließe. Warum wurde es in Deutschland nie gehoben? Für das deutsche Unterbewußtsein ist der deutsche Soldat - die einstige Inkarnation der Männlichkeit - als nationaler Repräsentant und Held unerträglich, weil in diese Erzählung die Bilder seiner Erniedrigung als Besiegter dialektisch eingeschlossen wären: Ein häufiges, aber nie vollständig ausgeformtes, weil zutiefst schambesetztes Thema der frühen deutschen Nachkriegsliteratur.

Der strikt antideutsche US-Kriegskorrespondent William Shirer notierte in seinem Tagebuch mit Behagen, was er 1945 in Berlin sah: deutsche Soldaten, zahnlos, zerlumpt, schmutzig, um Zigaretten schnorrend, an Krücken humpelnd, abstoßend, unerotisch - erledigt in jeder Hinsicht.

Es ist bemerkenswert, daß der deutsche Nachkriegsfilm keinen einzigen Schauspieler hervorgebracht hat, der einen Inbegriff des deutschen Mannes repräsentiert. (Horst Buchholz als Cowboy und Curd Jürgens als Nazi vom Dienst zählen nicht wirklich.) Das läßt sich nicht mit der Dominanz von Hollywood begründen, denn die Italiener haben trotzdem ihren Mastroianni, die Franzosen Delon, Montand, Piccoli, Trintignan. Während die Soldatenopfer anderer Länder, weil historisch ganz oder wenigstens halb ins Recht gesetzt, in ihrer Substanz und Würde unverletzt geblieben sind, ist der deutsche Soldat (und Mann) seit 1945 nur eine traurige Ruine, die von totaler Niederlage und Demütigung erzählt und Selbsthaß auslöst.

Um aus der Not eine Tugend zu machen, wird, anknüpfend an Brecht behauptet, ein Land wie die Bundesrepublik habe keine Helden nötig und sei das deshalb glücklichere. Aber es ist wohl eher ein Land, das nicht mehr selber gestaltet, sondern das gestaltet wird. Es ist eine - im vorfeministischen Sinne - feminisierte Nation.

Fotos: Gedenktafel im Bendlerblock für die dort in der Nacht zum 21. Juli 1944 hingerichteten Widerständler, Brief Stauffenbergs in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand


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