© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/07 20. Juli 2007

Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt
Das konservative Minimum II: Neigung zum Konkreten, Mißtrauen gegenüber Utopien / Zweiter Teil der JF-Serie
Karlheinz Weissmann

Es hat seinen guten Sinn, wenn man Begriffe auf ihre Wortwurzel zurückführt. Das gilt auch für politische Begriffe, zu deren wichtigsten die Richtungsbezeichnungen Sozialist, Liberaler und Konservativer gehören. Sie alle wurden im 19. Jahrhundert unter Bezug auf das Lateinische gebildet: Sozialist in Ableitung von "socius", dem "Genossen", liberal von "liber" für "frei", und Konservativer von "conservare", was soviel wie "schonen", "retten" oder "bewahren" heißt.

Bemerkenswert ist, daß die Bezeichnung der Konservativen zuletzt entstand. Die Verzögerung ist sowenig Zufall wie der reagierende Charakter des Konservativen überhaupt. Was es vor der Französischen Revolution als Frühform gab, war bestenfalls ein Ansatz. Die konservative Weltanschauung bildete sich deutlicher erst im Kampf gegen die "Ideen von 1789" aus. Wie das im einzelnen vor sich ging, ist historisch interessant, aber für unseren Zusammenhang ohne Bedeutung. Nur so viel muß deutlich sein: Im Mittelpunkt stand von Anfang an die Frage, was der Konservative eigentlich konserviert.

Obwohl das von seinen Gegnern immer wieder behauptet wird, geht es dem Konservativen nicht darum, irgend­etwas zu bewahren. Er weiß, daß das Bewahren keine Berechtigung an sich hat. Man muß deshalb das zugrunde liegende lateinische Wort noch etwas genauer betrachten, das als "con servare" eigentlich zu übersetzen wäre mit "etwas in seinem Zusammenhang erhalten". Deshalb kann konservativ auch nicht in dem Sinn verstanden werden, in dem eine Konserve konserviert, denn das in der Konserve Konservierte muß abgetötet werden, es behält nur das Aussehen von Lebendigem. Demgegenüber ist der Konservative darauf aus, gerade das Leben zu erhalten.

Thomas Mann hat in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918), einer der klügsten Apologien des konservativen Denkens, geschrieben, "Leben" sei der im "höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff" und erläuterte diese auf den ersten Blick überraschende Meinung unter Verweis darauf, daß die größten Konservativen - Goethe und Nietzsche - immer gewußt haben, daß alles in einem Veränderungsprozeß begriffen ist, den stillzustellen tatsächlich das Leben selbst beenden würde. Diese Gefahr ist aber geringer als die, daß innerer Zerfall den Lebenszusammenhang zerstört.

In der Hochschätzung des Lebenden wurzelt die Neigung des Konservativen zum Konkreten, die Feindschaft gegenüber der Abstraktion. Für ihn ist Vielgestaltigkeit ein selbstverständlicher Ausdruck von Vitalität, er mißtraut allen Arten von Gleichmacherei, den umfassenden Plänen und Utopien, die im Namen möglichst hochtrabender Prinzipien einebnen wollen, was es an Besonderem gibt. Die Neigung zum Konkreten erklärt den phänomenologischen Zug des konservativen Denkens und auch die Bedeutung, die Konservative für Wissenschaften wie Historiographie und Geographie, die Germanistik und überhaupt die Sprachforschung, die Religions-, Volks- und Völkerkunde gewannen, während sie in Philosophie und Soziologie, die es vornehmlich mit der Abstraktion zu tun haben, vergleichsweise schwach vertreten sind.

Es erklärt sich daraus auch die Aufmerksamkeit des Konservativen für die Geschichte. Man ist so weit gegangen, ihn als den Menschen "vor der Geschichte" (Armin Mohler) zu definieren, das heißt als den, der sich seiner Eingebundenheit in den Strom der Zeit bewußt bleibt, dessen Unumkehrbarkeit zu betrauern mag, aber doch hinnimmt und weiß, welche außerordentliche Leistung darin besteht, im ständigen Wandel einer Sache Dauer zu verleihen.

Der Konservative glaubt nicht, daß in dieser Welt etwas für die Ewigkeit bestimmt ist. Deshalb gibt es für ihn kein Ende der Geschichte, lediglich ein Ausmünden historischer Vorgänge, die in andere übergehen. Die konservative Sorge vor dem Verfall einer bestimmten historischen Gestalt, einer Nation, einer Kultur, erklärt sich daraus, auch die Sensibilität für Dekadenzerscheinungen und eine gewisse Melancholie bei der Betrachtung der Geschichte im Ganzen.

Die Betonung von Leben und Vielgestaltigkeit mag denjenigen irritieren, der die Konservativen zuerst für die Partei der Ordnung hält. Aber die Ordnung ist für den Konservativen sowenig absolut wie das Bestehende. Sie erhält ihre Bedeutung eigentlich erst aus der Einsicht in die Kraft der Veränderung, die für den Menschen etwas Festes nötig werden läßt. Die Institution mit ihren Regeln und ihrem überindividuellen Geltungsanspruch ist so etwas Festes. Von der Familie bis zu Kirche und Staat dienen Institutionen dazu, Halt zu gewährleisten, Bindung zu ermöglichen. Deshalb sind auch alle Institutionen mit Machtausübung verbunden. Aber trotz dieser Macht sind sie fragil. Wer je erfahren hat, welcher Anstrengung es bedarf, eine Familie zu gründen und zu erhalten, wird das bestätigen können. Um wieviel höher ist ein Gründungsakt zu werten, wenn er sich auf große Institutionen bezieht, die überhaupt nur von Großen geschaffen werden konnten - daher die konservative Verehrung für die Ausnahmemenschen, die Helden und Stifter.

Ihre Zahl ist klein, die Masse der Menschen kann sich nicht mit ihnen messen. Was man landläufig die pessimistische Anthropologie der Konservativen nennt, hat hier eine Ursache. Eine zweite liegt darin, daß der besondere Realismus der Konservativen auf der Schonungslosigkeit beruht, mit der sie das Wesen des Menschen beurteilen.

Man könnte mit Nietzsche vom Menschen als dem "nicht festgestellten Tier" sprechen. Die Formulierung hat den klassischen, die ihn als "vernünftiges Tier" oder als Ebenbild Gottes bezeichnen, ebenso wie den modernen, die ihn als arrivierten Affen oder als System betrachten, etwas voraus. Denn es kommt hier ein Spezifikum des Menschen zur Geltung, insofern, als er nämlich von Natur aus auf etwas angewiesen ist, das nicht Teil der Natur sein kann. Die Konservativen haben der modernen Biologie einiges zu verdanken - von der Einsicht in den hohen Grad an Erblichkeit des menschlichen Wesens wie auch in die Festlegung bestimmter Verhaltensmuster durch den animalischen Rest -, aber im Kern bleibt es doch dabei, daß die Kultur als unsere "zweite Natur" den Ausschlag gibt. Das Natürliche am Menschen ist unabdingbar, aber unzuverlässig. Es gibt keine Instinkte, die uns eine Reaktionssicherheit geben wie sie dem Tier eigen ist, wir bedürfen immer des Außenhalts.

Der wird gesichert durch die Institutionen und verinnerlicht durch die Erziehung. Erziehung setzt darauf, daß es möglich ist, durch bestimmte Maßnahmen den Menschen auf ein Ziel hinzuführen, das nicht in ihm selbst liegt. Erziehung bedarf deshalb der Autorität des Erziehers und des Gehorsams der Zöglinge, sie bedarf des Zwangs beziehungsweise der Androhung von Zwang, aber es handelt sich nicht um einen Akt der Dressur oder um "Sozialisation" in dem Sinn, daß ein Mensch einfach an die Umstände angepaßt wird, in denen er existiert. Der konservative Freiheitsbegriff, der immer eine sittliche Bindung voraussetzt, wurzelt in der Annahme, daß nur der erzogene Mensch - die "Persönlichkeit" - frei sein kann, daß auf Erziehung Selbsterziehung folgt, nicht Unerzogenheit, und: "Unter den Masken der Freiheit ist die Disziplin die undurchdringlichste." (Ernst Jünger)

Der Konservative erwartet nicht, daß jeder durch Erziehung erreichbar ist, und er teilt nicht die Hoffnung aller Progressiven, durch Erziehung eine bessere Welt vorwegzunehmen und dann durch die Erzogenen zu verwirklichen. Aber er hofft auf die Wirkung bei Einzelnen. Er weiß auch hier um die Bedeutung der Ausnahmen, der Wenigen, der Begabten. Deshalb ist die Anthropologie der Konservativen nicht wirklich pessimistisch. Moeller van den Bruck schrieb: "Der konservative Mensch denkt von dem Menschen sehr hoch und sehr niedrig zugleich."

Deshalb ist ihm der pauschale Optimismus fremd. Daher die häufigen Verweise auf die Skepsis des Konservativen. Skepsis aber nur insoweit, als sie der Erfahrung entspricht, denn Erfahrung ist für den Konservativen die Leitlinie des eigenen Handelns. Dabei geht es nicht nur um die persönliche Erfahrung, sondern auch die der früheren. Tradition ist insofern gesammelte Erfahrung. Ohne diese Einsicht ist keine konservative Position denkbar, eigentlich überhaupt keine sinnvolle menschliche Existenz. Das führt uns noch einmal zurück zur Bedeutung der Anthropologie.

Carl Schmitt hat bei Gelegenheit geäußert, daß alle "echten politischen Theorien" den Menschen als "problematisch" voraussetzen. Insofern ist der Konservatismus eine "echte politische Theorie", Liberalismus und Sozialismus sind es nicht, jedenfalls nicht, wenn sie konsequent bleiben wollen, was sie nicht können, sobald sie von der Theorie zur Praxis übergehen. Daher rührt die immer wiederkehrende Frustration der Linken und der Liberalen, mindestens die Frustration derjenigen, die entsprechende Parteien unterstützen, sobald diese an die Macht gekommen sind. Niemals wird tatsächlich das erreicht, was man sich versprochen hat, weder läßt sich ein System errichten, in dem tatsächlich alle Menschen gleich sind, noch eines, in dem die Freiheit den verläßlichen Maßstab des Handelns bietet.

Schlimmer noch, in ihren radikalisierten Formen haben entsprechende Programme zu furchtbaren Totalitarismen geführt oder zu einem Zerfall des historischen und kulturellen Zusammenhangs, den Konservative früh als "Atomisierung" bezeichnet haben, das heißt die Verwandlung der menschlichen Gemeinschaften in Konglomerate von Einzelnen, die nur noch nach individueller Nutzenmaximierung streben.

Der Soziologe Max Weber sprach in bezug auf solche Vorgänge von einer "Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen". Sie kennzeichnet grundsätzlich das menschliche Handeln, dem niemals eine vollständige Kenntnis seiner Bedingungen und Möglichkeiten zur Verfügung steht. Politische Theorien, die sich aber - wie die sozialistischen und die liberalen - anheischig machen, die Gesellschaft im Ganzen, die Geschichte im Ganzen zu entwerfen, übergehen regelmäßig diesen Sachverhalt und haben in den vergangenen zweihundert Jahren selbst aus dem immer wiederholten Scheitern eine Energie des "Noch-nicht" bezogen.

Die Anziehungskraft ihrer Welterklärungsmodelle hängt mit deren Geltungsanspruch wesentlich zusammen, und der wiederum mit der Behauptung, sichere Prognosen über den weiteren Gang der Dinge zu machen. Es sei hier darauf verzichtet, die konservativen Seher zu zitieren, die im 19. Jahrhundert den Aufstieg des Totalitarismus, die Zweiteilung des Planeten in ein amerikanisches und ein russisches Lager oder den Gesinnungsdruck in amorphen Massengesellschaften vorausgesagt haben. Es mag genügen, wenn man sich die Frage vorlegt, wer in der Nachkriegszeit mit seinen Annahmen richtiger lag: diejenigen, die behaupteten, daß das kommunistische System dauernden Bestand habe und sich allmählich liberalisieren werde oder diejenigen, die dessen Kollaps für unausweichlich hielten; diejenigen, die die deutsche Teilung für notwendig hielten oder die, die die Wiedervereinigung für wünschenswert und notwendig erachteten; diejenigen, die dem Multikulturalismus das Wort redeten oder diejenigen, die von der kommenden Überfremdung sprachen; diejenigen, die die "Pille" feierten oder diejenigen, die das Ende der europäischen Völker heraufziehen sahen; diejenigen, die den Feminismus feierten und die "repressive Struktur" der Kleinfamilie geißelten oder die, die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen und Erziehungsnotstand ahnten?

Die Aufzählung müßte an dieser Stelle nicht enden, aber sie droht zu ermüden und der Gesamteindruck würde sich verwischen. Aufs Ganze betrachtet sind die Konservativen mit ihren Annahmen im Recht gewesen, ihre Kontrahenten im Irrtum. Und das, obwohl diese über die brillanteren Vertreter verfügten, über größere Mittel und immer über ein Instrumentarium von Begriffen und Theorien.

Es hat auf seiten der Konservativen in den vergangenen Jahrzehnten manchen gegeben, der das Fehlen einer konservativen Theorie bemängelte, aber auch Stimmen, die zur Vorsicht mahnten. In einem Aufsatz zu diesem Thema schrieb Caspar von Schrenck-Notzing: "Die konservative Theorie ist ... eine Theorie nicht aus einem Guß, sondern aus vielen Güssen. Der Unterschied zwischen konservativen und linken Theorien liegt darin, daß die Theorie für den Konservativen ein zeitweiliges Hilfsmittel ist, um die Wirklichkeit zu erschließen, während die Theorie dem Linken dazu dient, sich in einem System gegen die Wirklichkeit zu verschließen."

Man muß das auch im Zusammenhang mit dem sehen, was hier zur Bedeutung von Denkstilen gesagt worden ist. Faktisch sieht sich der Linke gezwungen, seine abstrakten Vorgaben durch die Realität zu korrigieren, aber sein Denkstil läßt ihn diesen Sachverhalt notorisch bestreiten; ähnliches wird man auch über den landläufigen Liberalismus sagen müssen. Dieses Problem kennt der Konservative nicht: "Die Wirklichkeit ist immer rechts." (Jo­achim Fest)      

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Die dritte Folge dieser JF-Serie lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe 31-32/07 am 27. Juli.

Foto: Carl Spitzweg, Alter Mönch vor der Klause (Öl auf Leinwand, um 1870): Eingebunden in den Strom der Zeit


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen