© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/07 13. Juli 2007

Apostel des Hier und Jetzt
Wer mit Richard Dawkins' Positivismus nicht froh wird, suche sein Heil bei Michel Onfray
Alain de Benoist

Er war längst kein Unbekannter mehr, doch zum Weltruhm katapultierte ihn erst seine Streitschrift "Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muß" (Piper Verlag, München 2006, 300 Seiten, 14 Euro) - zweifellos ohne daß sie einen einzigen Menschen irgendwo auf der Welt zum Atheismus bekehrt hätte! In diesem Buch, daß seit seinem Erscheinen 2005 in Frankreich über 300.000 Mal verkauft und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, empfiehlt Michel Onfray jenen, die die "grausamen Gewißheiten der Erwachsenenwelt" den "Lebenslügen", den "beruhigenden, kindhaften Vorstellungen" vorziehen, den Atheismus als "zurückgewonnene geistige Gesundheit".

Die Monotheismen setzte er einer radikalen Kritik aus. Seiner Meinung sind sie allesamt vom selben "Todestrieb" beseelt: Sie "beurteilen das Hier und Jetzt nach den Kriterien einer anderen Welt", sind besessen vom "Haß" auf das Leben, den Körper, die Gelüste, die Frauen. In einem Rundumschlag verurteilt er die "jüdische Erfindung des heiligen Krieges", den "christlichen Antisemitismus" und die "muslimische Vorliebe für Blut". Ja, er behauptet sogar, Jesus habe genausowenig wirklich gelebt wie Nietzsches Zarathustra. Erst Paulus, jener "hysterische, fundamentalistische Jude", habe "sich dieser konstruierten Gestalt" bemächtigt und "sie mit seinen Vorstellungen" ausgestattet. Weniger originell ist der Gedanke, daß selbst unser vermeintlich entchristlichtes, laizistisches Zeitalter von der "jüdisch-christlichen Weltsicht" durchtränkt sei, die es lediglich in säkularisierter Form transportiere.

Die "Atheologie", die Onfray verficht, hat nichts mit einem wissenschaftlichen Positivismus gemein. Darin unterscheidet sie sich radikal etwa von dem Gedankengut des britischen Naturwissenschaftlers und "Gotteswahn"-Autoren Richard Dawkins. Onfray bemüht sich ausdrücklich um die Formulierung eines "nicht-christlichen Atheismus", der sich nicht auf eine negative Reproduktion christlicher Denkmuster beschränkt, sondern auf einer "Lebenskunst" beruht, einer "solaren und souveränen Ethik", der nicht nur Dogmen, sondern jede Form der Verfremdung fremd sind. Er feiert die Respektlosigkeit, die Unverschämtheit - einen Atheismus, der sich "rebellisch und ungehorsam" zeigt.

Onfrays Vater war Landarbeiter, seine Mutter Putzfrau. Der 1959 geborene Sohn mußte sich durch Fabrikarbeit sein Studium finanzieren, das er mit der Promotion abschloß. Danach folgte eine Anstellung an einem Gymnasium in Caen (Normandie), wo er bis 1983 Philosophie unterrichtete. Sehr bald begeisterte er sich für libertäre Ideen. "Ich merkte", sagte er später, "daß die Universität ein Ort war, wo nicht gedacht wurde, sondern wo es nur darum ging, das Gesellschaftssystem zu reproduzieren." Sein "Antimanuel de philosophie" von 2001 verarbeitet in ironischem Tonfall seine neunzehn Jahre als Gymnasiallehrer.

Aus Protest gegen den Lehrplan der staatlichen Schulen (durch Auswendiglernen der "offiziellen Geschichte" der Philosophie lerne kein Schüler, zu philosophieren) kündigte er 2002, um ebenfalls in Caen eine "Université populaire" zu gründen, eine freie Volkshochschule, die allen offenstehen und eine "Gegengeschichte" der Philosophie lehren sollte. Dem Unternehmen war ein gewisser Erfolg beschert (zu den Veranstaltungen kommen regelmäßig Hunderte von Teilnehmern hauptsächlich aus der Mittelschicht), der sogar in anderen französischen Städten Nachahmer gefunden hat. Die Vorlesungen werden auch im Radio übertragen.

Der Medienerfolg seines "Traité d'athéologie", so der weniger plakative Originaltitel, verleite jedoch niemanden zu dem Irrtum, Onfray sei zuvorderst ein Theoretiker des Atheismus. Den eigentlichen Schwerpunkt seines Werkes bildet der Begriff des Hedonismus, aus dem der Atheismus als eine von mehreren Konsequenzen abgeleitet wird.

Seine Hedonismuslehre stützt sich vor allem auf die griechische Philosophie (Diogenes und Epikur), daneben aber auch auf das Gedankengut der mittelalterlichen Begarden, der Libertins des 17. Jahrhunderts, der Materialisten des 18. und 19. Jahrhunderts (Helvétius, d'Holbach, La Mettrie, Feuerbach). Sie gibt sich als unaufhörliche Feier des Lebens, der Autonomie, des Denkens und der Legitimität der Gelüste. Sie will den Menschen mit seinem Körper versöhnen, der ihr als "sinnliche Maschine" gilt, und auf den Fundamenten der Ästhetik eine neue Ethik begründen. Aufbauend auf sexueller Freiheit, vor allem aber auf einer Art "freudiger" Präsenz in der Welt, deren Inspiration das "Carpe diem" des Horza ist, möchte Onfray eine Arithmetik der Gelüste schaffen. Dadurch hofft er "eine solare Beziehung zwischen den Einzelnen wiederherzustellen" - unter dem Solaren versteht Onfray "alles, was libertär ist".

Dieser Hedonismus versteht sich als allumfassende Lehre: Theorie und Praxis zugleich, will er den Körper wieder in den Mittelpunkt der Wahrnehmung und der Weltsicht rücken. Zugleich bietet er Raum für das, was Onfray als "existentiellen Hapax" bezeichnet. Gemeint ist ein Ereignis, daß im Leben des Einzelnen unwiederholbar bleibt, ihn aber dazu bewegt, einen eigenständigen und persönlichen Lebensweg einzuschlagen (etwa der berühmte Sturz vom Pferd, der Montaigne plötzlich mit seiner zerbrechlichen Körperlichkeit wie mit der Einheit zwischen Leib und Seele konfrontierte).

Onfrays bisheriges Werk umfaßt um die dreißig Bände (von denen ein Drittel in deutscher Übersetzung vorliegt), in denen er sich auf einen "sinnlichen Materialismus", eine "solare Libertinage", einen "dionysischen Utilitarismus", einen "libertären Individualismus", eine "künstlerische Philosophie", einen "linken Nietzscheanismus" und nicht zu vergessen eine "heidnische Subjektivität" beruft.

Neben dem Bemühen, eine neue Ethik zu begründen, versuchte er mit "Politique du rebelle. Traité de résistance et d'insoumission" (1997) eine politische Formulierung seiner Ideen (dt. Der Rebell. Plädoyer für Widerstand und Lebenslust. Stuttgart: Klett-Cotta 2001)

Auch in politischen Fragen bekennender "Ungläubiger und Atheist", engagiert sich Onfray in keiner Partei, sondern hat sich vorgenommen, den ethischen Hedonismus mit politischem Anarchismus zu verbinden. Bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen unterstützte er zunächst den Globalisierungsgegner José Bové, um schließlich einen Wahlaufruf für den Kandidaten der Revolutionären Kommunistischen Liga (LRC), Olivier Besancenot, auszusprechen. Diese Kehrtwende trug ihm heftige Kritik von linker Seite ein.

Im wesentlichen versteht sich Onfray als Erbe der drei großen maîtres du soupçon, wie man Freud, Marx und Nietzsche in Frankreich als Vertreter philosophischer Denkansätze bezeichnet, die hinter den sozialen Institutionen und den kollektiven Vorstellungen Machtinstrumente der herrschenden Klasse sehen.

Von Marx übernimmt er vor allem die Bestimmung des Überbaus durch die wirtschaftliche Basis, von der das "falsche Bewußtsein" herrührt, von Freud ein begriffliches Instrumentarium, mit dessen Hilfe er die Triebe der Gesellschaft offenlegt. Am deutlichsten jedoch macht sich der Einfluß Nietzsches auf sein Denken bemerkbar, wie sein neuestes Buch "La sagesse tragique. Du bon usage de Nietzsche" (2006) zeigt. Georges Palante, der neben Georges Bataille zu den wichtigsten "linken Nietzscheanern" zählt, widmete er eine Biographie (Georges Palante. Essai sur un nietz­schéen de gauche, 1989).

Seine Kritik des Christentums (und darüber hinaus aller großen universellen Heilsreligionen) ist eigentlich typisch nietzscheanisch. Nietzsche verstand Gott als Antithese zum Leben. Ebendiesen Gedanken greift Onfray auf, wenn er "die ungeheure Leuchtkraft der Atheologie" beschwört.  Den drei monotheistischen Religionen sei dagegen gemeinsam, daß sie ihre Anhänger zwängen, "schon im Hier und Jetzt der Welt zu entsagen: Sie preisen ein (fiktives) Jenseits und verhindern dadurch, daß man das (reale) Diesseits in vollen Zügen genießt. ... Mit dem Hinweis auf die Endlichkeit alles Seins wird der lebendige Kern der Existenz schon im Entstehen abgetötet. Nicht zu sein, um nicht sterben zu müssen - eine Rechnung, die nicht aufgeht!"

Michel Onfrays Werk hat durchaus sympathische Aspekte. Man kann ihm vorwerfen, bisweilen ein wenig platt zu argumentieren, zu anfechtbaren Schlüssen, ja sogar äußerst oberflächlichen Urteilen zu gelangen. In der Politik preist er eine "rebellische" Haltung, läßt sich seine Themen jedoch weitgehend von der herrschenden Ideologie vorgeben. Seine Thesen zur Erotik gehen nicht über das hinaus, was zahlreiche andere Autoren zum selben Thema geschrieben haben. Seinem brutalen Atheismus (der ihm den Vorwurf einhandelte, den Islam zu "verteufeln") mangelt es zumindest an Feinsinn: Für ihn sind Religionen nichts als "Herrschaftsinstrumente". Seine Vorstellung, es würde ausreichen, "die Gelüste zu befreien", um soziale Zwänge und Institutionen zu überwinden, zeugt von einem Optimismus, der letztlich hochgradig naiv ist.   

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften "Nouvelle Ecole" und "Krisis" sowie Leitartikler von "Eléments".

Foto: Michel Onfray, französischer Philosoph: Des Menschen Wille braucht kein Himmelreich


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