© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Adrenalinstoß für den Imperialismus
Vor 150 Jahren erschütterte der "Sepoy"-Aufstand den indischen Subkontinent und forderte die britische Kolonialmacht heraus
Heinz-Joachim Müllenbrock

Auf der Weltausstellung von 1851 im Londoner Kristallpalast präsentierte sich Großbritannien als Vorhut zivilisatorischen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der auch seinem in Ausdehnung begriffenen zweiten Empire zugute kommen sollte. Nur wenige Jahre nach dieser ehrgeizigen Selbstdarstellung erlitt die imperiale Mission des Inselreiches auf dem indischen Subkontinent einen herben Rückschlag. Am 10. Mai 1857 brach in Meerut (Mirat) mit der Rebellion der bengalischen Armee der sogenannte indische Aufstand aus, der sich rasch zu einem Flächenbrand hauptsächlich im Norden des Landes ausweitete.

Der unmittelbare Anlaß zur Meuterei der indischen Truppen könnte trivial genannt werden, doch veranschaulichte er die unüberbrückbare mentalitätsmäßige Kluft zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Nachdem bereits anfangs des Jahres die geheimnisvolle Verteilung von Chapatis, einem aus ungesäuertem Brot hergestellten ringförmigen Gebäck von Biskuit-Größe, ominöse Signale an die Kolonialherren ausgesendet hatte, mehrten sich bald die Anzeichen dafür, daß die mit der Einführung des neuen Enfield-Gewehrs verbundene Einfettung der Patronen mit Rinder- und Schweinefett - zum Laden war das Abbeißen dieser Patronen erforderlich - die religiösen Empfindungen der Inder verletzte. Die unbedachte Maßnahme brachte sowohl hinduistische als auch muslimische Sepoys (die eingeborenen Soldaten des englischen Heeres) gegen die Kolonialmacht auf.

Das auslösende Moment des Aufstandes war aber nur Indiz für ein viel weiter greifendes Unbehagen, welches man als Überforderung indischer Reformbereitschaft durch englische Kulturhegemonie bezeichnen könnte. So trug die Einführung des europäischen Bildungswesens zu dem Eindruck bei, daß eine Christianisierung Indiens beabsichtigt sei, womit nicht so sehr die Bekehrung zum christlichen Glauben als vielmehr die Aufnötigung verbotener Bräuche und Lebensgewohnheiten gemeint war. Daß der übereilte Reformdrang von Lord Dalhousie, dem Generalgouverneur der zuständigen Ostindien-Kompanie, an seine schmerzlichen Grenzen stieß, wurde bei der Erweiterung des britischen Gebietes auf Kosten der einheimischen Fürstentümer deutlich, die das labile Gleichgewicht zwischen Oberhoheit und Nichteinmischung gefährdete.

Englische Krone übernahm die Verwaltung Indiens

In Brüskierung des geheiligten Hindu-Rechts auf Adoptionen wurde der Grundsatz aufgestellt, beim Tode von Herrschern ohne leibliche Erben oder bei offenkundiger Untauglichkeit eines Herrschers die betreffenden Staaten als erledigte Lehen zu erklären. Die darauf basierenden Heimfall-Annexionen riefen zunehmend Mißstimmung hervor - eine Ursache des großen Aufstandes. Überhaupt spielten rein selbstsüchtige Motive wie die Hoffnung auf Rückgewinnung früherer Machtstellungen eine wesentliche Rolle. So schielte der bekannte Nana Sahib, einst Liebling der Londoner Salons und jetzt verantwortlich für das Cawnpore-Massaker an weit über hundert weißen Frauen und Kindern, auf die Wiedereinsetzung der Peshwas, der erblichen Premierminister, die in der Marathen-Konföderation die eigentliche Macht innehatten.

Obwohl die Kolonialherren in den Sommermonaten des Jahres 1857 zunächst wie ein angezählter Boxer unter den Schlägen der Aufständischen taumelten, die Delhi, Lucknow (Lakhnau) mit Ausnahme der Residenz und Cawnpore einnahmen, bewiesen sie ihre legendär gewordenen Nehmerqualitäten. Unerschüttert von den auf sie herabprasselnden Hiobsbotschaften, harrten sie in oft verzweifelter Lage mit bewundernswerter persönlicher Tapferkeit zäh aus, bis sich das Blatt zu ihren Gunsten wendete. Die Verteidigung der Residenz von Lucknow gegen eine zahlenmäßig überwältigende Übermacht schälte sich dabei als mythischer Kern britischen Selbstbehauptungswillens heraus. Noch vor dem Eintreffen des Truppennachschubs aus England gelang im September 1857 eine erste Verstärkung Lucknows. Im folgenden Jahr waren die Engländer wieder vollständig Herr der Lage. Ihr Strafgericht über die als Teufel dämonisierten Rebellen war furchtbar - so wurden indische Aufständische hingerichtet, indem man sie vor Kanonen band.

Der Aufstand von 1857 wird von englischer und indischer Seite bis heute sehr unterschiedlich bewertet. Die englische Bezeichnung Mutiny (Meuterei) trifft insofern den Sachverhalt, als es sich fast ausschließlich um einen Aufstand von Soldaten und nicht der Zivilbevölkerung handelte, allerdings waren auch tiefergreifende politische Beweggründe im Spiel. Die von einigen indischen Historikern sehr früh gewählte Etikettierung "Erster Unabhängigkeitskrieg" erscheint nicht stichhaltig, weil die Erhebung auf die nördlichen Regionen begrenzt blieb und weite Teile Indiens gar nicht erfaßt wurden. Zu einem eigentlichen Volksaufstand kam es ansatzweise nur in wenigen, beschränkten Gebieten, besonders in Oudh.

Trotz seines vollkommenen Scheiterns zeitigte der Aufstand sehr wohl weitreichende Folgen. Auf administrativer Ebene schaffte man die Befugnisse der Ostindien-Kompanie ab, und die englische Krone übernahm die Verwaltung Indiens; aus dem Generalgouverneur wurde der Vizekönig. Zudem gab man Lord Dalhousies unglückliche Heimfall-Doktrin auf, und die eingeborenen Fürstentümer wurden fortan als Stützen der britischen Herrschaftsstruktur betrachtet.

Kristallisationspunkt britischer Gedächtniskultur

Darüber hinaus hatte der Aufstand beträchtliche ideologische Auswirkungen. Durch ihn rückte das koloniale Engagement in bislang unbekannter Weise in den Mittelpunkt der britischen Öffentlichkeit. Der Aufstand von 1857 gab dem imperialen Gedanken gewissermaßen einen Adrenalinstoß und darf aufgrund der Verabschiedung von zu optimistischen Erwartungen zu Recht als ein ideologischer Wendepunkt bezeichnet werden. So gebar er das moralischer Selbstrechtfertigung dienende imperialistische Ethos von der Bürde des weißen Mannes, wie es Rudyard Kiplings gleichnamiges Gedicht verkündet. Der propagandistisch-konstruktiven Verarbeitung des Aufstandes entsprach die besonders in der Historienmalerei sichtbare Verklärung militärischer Protagonisten wie Sir Henry Havelocks, des ersehnten Befreiers von Lucknow. Letzterer wurde, als Glauben und Empire zugleich verteidigender christlicher Ritter stilisiert, zu einer allgegenwärtigen imperialistischen Ikone. So schuf die Auseinandersetzung mit der Mutiny den Prototyp des zeitgenössischen Helden und lieferte das rhetorische Arsenal für die offensive Gangart des britischen Imperialismus im späten 19. Jahrhundert.

Keine koloniale Begebenheit hat die englische Psyche so beschäftigt wie der indische Aufstand, der in das kulturelle Gedächtnis der Nation eingegangen ist. Insbesondere in der Literatur hat er reichen Niederschlag gefunden. Von Tennysons glorifizierendem Gedicht "The Defence of Lucknow" (1879) bis zu J. G. Farrells revisionistischem Roman "The Siege of Krishnapur" (1973) reicht das Spektrum bemerkenswerter literarischer Deutungen. Beide Werke belegen, daß die Verteidigung Lucknows - mit der unerhörten Notlage der in der Residenz Eingeschlossenen (unter ihnen Frauen und Kinder) und dem heroischen Ausharren der wenigen Landsleute gegenüber der Masse der ethnisch Fremden - zu einem epische Dimensionen erreichenden Kristallisationspunkt nationaler Gedächtniskultur avancierte. In der Romanliteratur wie in anderen Gattungen hat die Erinnerung an dieses zentrale Ereignis bis über die Unabhängigkeit Indiens hinaus imperialer Gedächtnispflege gedient. Doch selbst in Farrells ideologiekritischem Rückblick büßt es die Aura patriotischer Opferbereitschaft keineswegs ein.

Bis heute ist die Reihe von Romanen über den Aufstand - sowohl von englischen als auch von indischen Autoren - nicht abgerissen. Auch in der Geschichtsschreibung ist der indische Aufstand ein vielbearbeitetes Thema. Im postkolonialen Zeitalter sind die dramatischen Vorgänge von einst immer noch ein Faszinosum, das nach stets neuen Bemühungen um restlose Aufklärung oder auch nur nach nostalgischer Rückschau verlangt. Vielleicht kann gerade die Romanliteratur mit ihrer spezifischen Fähigkeit, historisch-gesellschaftliche Phänomene in mentalitätsmäßig überzeugender Anschaulichkeit zu vermitteln und in der Geschichtlichkeit auch die Menschlichkeit durchscheinen zu lassen, zur Etablierung eines Versöhnlichkeitsdiskurses beitragen. Dann könnte ein beide Seiten lange polarisierendes Ereignis künftig noch stärker aus der Perspektive wechselseitiger Toleranz betrachtet werden.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Foto: Wassili Wereschtschagin, "Exekution mit Kanonen in Britisch-Indien", Ölgemälde 1880er Jahre: Britisches Strafgericht über die als Teufel dämonisierten Rebellen


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