© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Bürger im Dschungel der Paragraphen
Der Jurist Wieland Kurzka prangert den Verordnungs- und Gesetzgebungswahn in Deutschland und der Europäischen Union an
Klaus Motschmann

Die politischen Realitäten und die reichen geschichtlichen Erfahrungen erinnern uns immer wieder daran, daß politische und gesellschaftliche Ordnungen nicht nur durch militärische Gewalt von außen oder durch revolutionäre Gewalt von innen zugrunde gehen, sondern oft genug durch einen langsamen, selbstverschuldeten Zersetzungsprozeß der eigenen Verfassungs- und Rechtsordnungen durch exzessive Überbeanspruchung.

Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Versuche einer gewaltsamen Neuordnung, sei es durch Krieg oder durch Revolution, gescheitert sind und keine Aussicht auf eine Fortsetzung dieses Weges besteht. Musterbeispiel dafür ist die nationalsozialistische "Machtergreifung", die sich "legal" vollzog, also rein formal unter vorläufiger Beachtung der verfassungsrechtlichen Bedingungen.

Sie läßt sich aber auch, gerade unter Berücksichtigung dieser Erfahrungen totalitärer Machtergreifung und Mißbrauchs, nach peinlicher Beachtung der verfassungsmäßigen Ordnung erklären. Diese auf den ersten Blick verständliche Reaktion auf die Herrschaftspraxis der totalitären Systeme im vorigen Jahrhundert übersieht jedoch, daß der Mißbrauch einer Sache kein Argument gegen den rechten Gebrauch sein muß und zu einer Perversion der Rechtsordnung führen kann. Von Cicero ("Summum ius, summa iniuria") über Martin Luther ("Strengest Recht ist allergrößtes Unrecht") über Montesquieus "Geist der Gesetze" bis in die seriöse zeitgenössische Staatsrechts- und Verfassungslehre zieht sich wie ein Cantus firmus die Warnung vor einem Rechtsverständnis, das sich vornehmlich am Buchstaben, nicht aber am Geist des Gesetzes orientiert.

Dieser kurze Rückblick in die Rechtsgeschichte beweist, daß es sich dabei nicht um ein spezifisch deutsches Problem und auch nicht um ein Problem der Neuzeit handelt. In Deutschland hat es allerdings eine besondere Zuspitzung erfahren, die eine rationale Auseinandersetzung mit diesem Problem außerordentlich erschwert, weithin unmöglich macht.

Wenn es heißt, so der Verfasser des angezeigten Buches auf der ersten Seite, "daß ein Durchschnittsbürger 2.152 Bundesgesetze, 3.132 Verordnungen und 88.076 Bestimmungen beachten muß", so wird den Laien ebenso wie den Juristen ein Gefühl der Verzweiflung an unserem Rechtsstaat befallen - ganz einfach, weil die Stoffülle, die technokratische Paragraphenverweisungsdiktion und die Omnipräsenz des Gesetzgebers eine Beherrschung des Rechtsstoffes als vollkommen ausgeschlossen erscheinen lassen. Recht ist zur terra incognita geworden, auch und gerade für den Juristen, der sich nicht mehr in seinem Reich der Rationalität bewegt, sondern in den Kafkaschen Schloßkanzleien mit ihrem Getöse umstürzender Aktenberge.

Aus dieser Springflut von Gesetzen entsteht folgerichtig zunächst eine bedrohlich um sich greifende Verhaltens-unsicherheit. Wohl jeder verantwortlich Handelnde in Wirtschaft und Verwaltung, jeder Redakteur, Schuldirektor oder Arzt weiß, daß er auch bei bestem Willen gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen muß, wenn er dem Grundsatz "Dienst nach Vorschrift" folgt.

Der Verfasser, Volljurist und Autor zahlreicher fachjuristischer Arbeiten ("Richterlicher Schreibdrang", JF 21/06), belegt seine Aussagen mit einer Fülle von plastischen und dramatischen Beispielen aus der Gesetzgebungspraxis der Bundesländer, des Bundes und der EU. Spätestens bei der Lektüre der von der EU erlassenen Rechtsverordnungen, die eine unmittelbare Rechtswirkung auf die Bundesrepublik haben, "beginnen die Glocken des Irrsinns zu läuten". So mußte beispielsweise das Land Berlin eine EU-Richtlinie umsetzen und ein Seilbahngesetz erlassen, "um dem Bund eine Klage wegen Vertragsverletzung zu ersparen".

Von einer unzulässigen Verallgemeinerung derartiger Absurditäten, wie sie in der Rechtsgeschichte immer einmal vorgekommen sind, kann bedauerlicherweise keine Rede sein. Im Gegenteil: Sie belegen die ungebrochene Illusion, daß sich die vielfältigen Probleme einer im raschen Wandel befindlichen Gesellschaft durch immer neue Gesetze lösen lassen.

Mit jedem neuen Gesetz werden - bewußt oder unbewußt - notwendige Planungs- und Entscheidungsprozesse erschwert, wenn nicht blockiert und damit der Eindruck zunehmender Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates bestärkt. Aus dem Rechtsstaat entwickelt sich der vielzitierte Rechtsmittelstaat, eine "gesetzgeberische Inkontinenz, die alles gefährdet, was Gesetzgebung angeblich schützen will".

Immerhin vermittelt die Lektüre den Eindruck, daß die Einsicht in die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die europäische Rechtstradition wächst und damit die Hoffnung auf Umkehr von einem Irrweg.

Wieland Kurzka: Im Paragraphenrausch. Überregulierung in Deutschland - Fakten, Ursachen Auswege. Resch Verlag, Gräfelfing 2006, broschiert, 300 Seiten, 14,90 Euro


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