© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

"Von wunderbarer Geschlossenheit"
Aus deutscher Sicht: Danzigs Geschichte en gros und en detail
Karsten Schönfeld

Lange hat sich kein deutscher Historiker an eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Hansestadt Danzig gewagt. Greifbar war nach 1945 nur das Brevier des Danziger Staatsarchivars Erich Keyser, doch das stammte aus dem Jahr 1928 und mußte als Nachdruck eine Leerstelle füllen. Bezeichnend ist auch, daß die einzigen Versuche, Keyser nachzueifern, nicht von professionellen Historikern stammten, wie Rüdiger Ruhnaus solide, aber kurze "Geschichte einer deutschen Stadt" (1971), Waldemar Epps grobkörnige Revue von 1983 und Hans Georg Sieglers "Chronik eines Jahrtausends" Danziger Historie (1990), die aber natürlich schon nicht mehr darstellt, sondern nur Daten kompiliert.

Zu mehr als Aufsatzsammlungen sowie monographischen Studien über Einzelaspekte und überschaubare Zeitabschnitte (vor allem: 1918-1945), unter denen Peter Oliver Loews Arbeit zur Danziger Geschichtskultur zwischen 1793 und 1997 (2003, JF 05/04) herausragt, hat es also bislang nicht gereicht. Anders in Polen, wo Edmund Cieslak mit Hilfe einiger Mitarbeiter das fünfbändige, arg auf "Polski Gdańsk" getrimmte Mammutwerk seiner "Historia Gdańska" (1978-1997) zustande brachte, das in einbändiger, englischer Komprimierung auch in einer Weltsprache vorliegt.

Deutsches Verzagen und polnischer Gigantismus - für den 1968 im Erzgebirge geborenen Nürnberger Historiker Frank Fischer war dies die Ausgangslage, um die Geschichte einer tausendjährigen Stadt an der Ostsee in Angriff zu nehmen. Herausgekommen ist ein Lesebuch, das sich der Wissenschaft bedient, aber als Forschungsreferate geschickt verknüpfende und journalistisch flott geschriebene "Historienerzählung" selbst kaum beansprucht, die Stadtgeschichte um neue Einsichten zu bereichern. Fischer scheint von vornherein in weiser Selbstbeschränkung im historisch interessierten Laien seinen idealen Leser im Auge gehabt zu haben.

Unter diesen Auspizien kann das Ergebnis sich sehen lassen. Fischer eröffnet einem breiten Publikum einen leichten, streckenweise sogar unterhaltsamen Zugang gerade zur unübersichtlichen Geschichte des Stadtstaates im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, die durch ein vertracktes Verhältnis zum Deutschen Orden wie zum polnischen Königreich bestimmt ist. Es ist verständlich, daß Fischer als Nicht-Mediävist, der auch keine gediegene Kenntnis als Frühneuzeitlicher für sich reklamiert, die Jahrhunderte bis zur dritten polnischen Teilung, die 1793 das "Venedig des Nordens" zu Preußen schlug, fast im Eiltempo hinter sich bringt und daß er hier ganz im Fahrwasser der älteren deutschen Historiographie bleiben muß - von Paul Simson zu Erich Keyser.

Den fünfhundert Jahren bis zum "Neuanfang unter dem Preußenadler" gönnt der Autor daher nur die Hälfte seiner Darstellung, während er die andere dem 19. und 20. Jahrhundert reserviert, wo er sich selbst heimischer fühlt und auch in der Wertung eigene Akzente zu setzen bemüht ist. Für die gesamte "Strecke" ist ihm aber hoch anzurechnen, daß er im Gegensatz zu seinen bundesdeutschen Altergenossen niemals der Versuchung erliegt, Danzigs Geschichte nachträglich zu polonisieren. Allein für die Zwischenkriegszeit, die Ära der durch das Versailler Diktat geschaffenen "Freien Stadt", gerät die Rekonstruktion ihrer "Beziehungsgeschichte" zum wiedererstandenen Polen allzu harmonisch. Das mag daran liegen, daß Fischer das Gros der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur, die Publikationen des Danziger Ostland-Instituts und selbst das fundamentale, noch heute unüberholte Werk des Danziger Staatsarchivars Walther Recke über "Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik" (1927) ignoriert. Dadurch zerfließen die Konturen eines Konflikts, für dessen Eskalation hauptsächlich Polen verantwortlich war, das seit 1918 alle Hebel ansetzte, um eine zu 97 Prozent von Deutschen bewohnte Stadt zu annektieren, auf die es sowenig einen Anspruch hatte wie auf Padua oder Peking.

Zu oft eskamotiert Fischer hier die entfesselte polnische Aggressivität, etwa beim Streit um die rechtswidrig installierten polnischen Postkästen oder bei der Aufrüstung der Westerplatte. Solche Verniedlichungen korrespondieren in eigentümlicher Weise mit dem Bestreben, zur Danziger Regionalgeschichte gerade der dreißiger Jahre auf Distanz zu gehen. Marek Andrzejewskis zwar noch stark "volkspolnisch" infiltrierte, aber materialreiche Studie über "Opposition und Widerstand in Danzig, 1933-1939" (1994) sucht man daher in der Bibliographie vergeblich.

Folglich muß Fischer oft in Platitüden sein Heil suchen ("Der Alltag fühlte sich an wie immer") oder sich auf die Außenperspektive, vermittelt anhand der Tagebuch-Einträge von Joseph Goeb­bels, zurückziehen. Nicht einmal ein Ansatz von der stofflichen Fülle, die Wolfgang Gipperts Sozialgeschichte zu "Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1945" (2005) ausbreitet, ist in Fischers fahriger Skizzierung zu finden. Zu schweigen von der Berücksichtigung der Kulturgeschichte, wie sie vorbildlich Loew erschlossen hat. Fischer dagegen vermittelt den Eindruck, als habe ein geistiges Leben in Danzig nicht stattgefunden. Ein paar Zeilen zur Technischen Hochschule, ein Hinweis auf die Zoppoter Waldoper - mehr scheint ihm nicht aufgefallen zu sein.

Die nicht allein architekturgeschichtlich relevante Altstadtsanierung, die Fischer einen Halbsatz wert ist, macht Birte Pusback in ihrer Hamburger Dissertation über "Die Danziger Denkmalpflege zwischen 1933 und 1939" zum Gegenstand einer profunden Untersuchung, die eine Forschungslücke ausfüllt. Wer allerdings zu Pusbacks titelgebendem Thema vorstoßen möchte, hat sich zuvor durch mehrere Kapitel zur Geschichte der deutschen Denkmalpflege durchzubeißen, muß zudem erst vergleichbare Altstadtsanierungen in Frankfurt am Main, Hamburg, Nürnberg und Stralsund zur Kenntnis nehmen, bevor er dann, die Hälfte des Textes samt opulentem Bildteil hinter sich lassend, endlich Jopen-, Frauen- und Langgasse an der Mottlau erreicht.

Auch diesem Herzstück ihrer Arbeit stellt Pusback eine historische Einleitung zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden, von Historismus und Heimatschutzidee geprägten Geschichte der Danziger Altstadtbewahrung voran. Die in den dreißiger Jahren in vielen Bildbänden über "das deutsche Danzig" vermittelte Ansicht, das alte, womöglich "mittelalterliche" Stadtbild habe sich "in wunderbarer Geschlossenheit" (Erich Volmar) erhalten, erweist sich aber als nur bedingt richtig, da zwischen 1880 und 1933 Denkmalpflege nicht nur Konservierung, sondern Sanierung, also "Veränderung" bedeutete. "Geschlossen" mag das Stadtbild bis 1945 gewesen sein, "alt" war es gerade seit der 1934 von den Denkmalpflegern Otto Kloeppel und Erich Volmar geleiteten, von Pusback minutiös analysierten "Wiederherstellungsaktion" nicht mehr.

Inwieweit diese unter der Ägide des Danziger NS-Gauleiters Albert Forster durchgeführte, 1940 kriegsbedingt eingestellte Restauration aber einer spezifisch nationalsozialistischen Ästhetik gehorchte oder inwieweit sie einfach nur in der Kontinuität der Leitbilder des Heimatschutzes stand - dieses explizit formulierte Erkenntnisinteresse bleibt unbefriedigt.

Natürlich waren restaurierte Giebel, Häuserzeilen, Ensemble, das neue Stadtbild in seiner "Gesamtwirkung", Teil eines "Ringens um die kulturelle Deutungshoheit" über Danzigs Geschichte, für deren "urdeutschen" Charakter die Architektur Zeugnis ablegen sollte. Für die Einzelheiten dieser "medialen Vermittlung" verweist Pusback indes leider auf einen noch nicht erschienenen Aufsatz aus ihrer Feder. Ihre hier präsentierten Andeutungen zum Kampf um die kulturelle Hegemonie belegen jedoch, wie hilflos die Autorin gängigen Klischees erliegt. So verheddert sie sich zeithistorisch, wenn sie meint, 1919, als Danzig noch unzweifelhaft Bestandteil des Deutschen Reiches war, habe man in der Hansestadt den "Anschluß" an Deutschland propagiert. Oder sie stellt ahistorisch die architektonisch bekräftigte Betonung des "Deutschtums" Danzigs auf eine Stufe mit den Bemühungen des ungeliebten Nachbarn, die Stadt in eine "eindeutig polnische Tradition" zu pressen, redet gar von der "vermeintlich drohenden politischen und kulturellen Polonisierung" und will im Danzig-Schrifttum "rassistische Konnotationen" entdecken.

Vielleicht ist es solch mangelndem Bewußtsein über die eigenen Abhängigkeiten geschuldet, wenn sich Pusbacks so überaus detaillierte, von großem Fleiß zeugende Mikrostudie zur Danziger Architekturgeschichte mit der Interpretation ihres ideologischen Kontextes so schwertut.

Frank Fischer: Danzig. Die gebrochene Stadt, Propyläen Verlag, Berlin 2006, gebunden, 416 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Birte Pusback: Die Stadt als Heimat. Die Danziger Denkmalpflege zwischen 1933 und 1939. Böhlau Verlag, Köln 2006, gebunden, 341 Seiten, Abbildungen, 44,90 Euro

Foto: Max Buchholz, Danzig vom Bischofsberge (links), Zoppoter Bucht vom Kaffeehaus Lukas, Aquarelle 1935: Architektonisch bekräftigte Betonung des "Deutschtums" Danzig


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