© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Die Realität hat immer recht
Gedankliche Chirurgie: Günter Rohrmoser, die Ritter-Schule und die Macht des Wirklichen
Karlheinz Weissmann

Im Kontext der Oettinger-Filbinger-Weikersheim-Affäre ist immer wieder der Name Günter Rohrmosers ins Spiel gebracht worden. Übelwollende sahen in ihm eine Art "Spinne im Netz", die nicht nur Oettingers Referenten, sondern auch das ganze Studienzentrum an ihren Fäden hält. Es lohnt sich nicht, diesen Unsinn zu widerlegen, aber es wirft doch ein Licht auf den Grad an Desinteressiertheit gegenüber den wirklichen Zusammenhängen, wenn hier kein Wort darüber verloren wird, daß Rohrmoser jener "Ritter-Schule" zugehört, über deren Einfluß auf das Geistesleben der Bundesrepublik seit einiger Zeit intensiv diskutiert wird.

Rohrmoser selbst hat darauf hingewiesen, daß der Philosoph Joachim Ritter in der Nachkriegszeit eine Art Aussöhnung von Konservatismus und Gegenwart vorbereitet habe (Konservatives Denken im Kontext der Moderne, Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim 2006, gebunden, 325 Seiten, 22,75 Euro). Anders als die konservativen Vordenker der Weimarer Republik sei er bereit gewesen, die Moderne grundsätzlich anzuerkennen, allerdings unter der Maßgabe, daß die ältere Tradition Maßstäbe auch für eine Kritik der Moderne bereithalte, die nötig seien, um gewisse Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Diese Charakterisierung der Position Ritters trifft sich in vielem mit dem politischen Selbstverständnis Rohrmosers, man muß sie aber auch als Kommentar zu Feststellungen wie jenen lesen, die der Historiker Jens Hacke in einem unlängst erschienenen und viel besprochenen Buch unter dem Titel "Philosophie der Bürgerlichkeit" (JF 12/07) getroffen hat.

Die Tradition gibt Maßstäbe für Kritik an der Moderne

Hacke behandelt fast nur die Rolle Hermann Lübbes und Odo Marquards, der prominentesten Ritter-Schüler, in den politischen Debatten seit den siebziger Jahren. Befremdlich ist dabei seine Behauptung, daß dieser "Ritter-Schule" ein ähnlicher Einfluß wie der Frankfurter Schule zugekommen sei. Zwar gehört die "Ritter-Schule" zu jenen Größen, über deren intellektuelle Bedeutung verwegene Mutmaßungen angestellt werden, aber es gelang eigentlich nie ganz plausibel zu machen, welche Wegweisung Ritter in concreto gegeben haben könnte.

Zugegeben sei, daß Ritter-Schüler sich politisch deutlich gegen den Neomarxismus gewendet haben, darunter vor allem Lübbe und Marquard, deren gemeinsamen Ausgangspunkt Hacke in einem dezidierten Anti-Idealismus und einer skeptischen Anthropologie sieht. Beides habe sie davor bewahrt, dem rationalen "Begründungs-Totalitarismus" (Lübbe) anheimzufallen, der mit dem Erfolg der Progressiven immer stärkere Bedeutung gewann. Sie verteidigten wie ihr Lehrer die Moderne, meinten aber, daß die Modernisierung zu einer illusionären Einschätzung der Veränderungsmöglichkeiten von Gesellschaft und Individuum führe, daß Traditionsbestände erhalten werden müßten, um Verlusterfahrungen zu kompensieren.

Als "konservativ" bezeichneten Lübbe und Marquard diese Strategie nur aus formalen Gründen. Marquard wird von Hacke mit der Äußerung zitiert, seine gedankliche Operation sei so "konservativ" wie die medizinische des Chirurgen. Übernahmen aus den Lehren Carl Schmitts oder Arnold Gehlens kamen regelmäßig vor, aber nur nach Entschärfung, indem man die "vordemokratischen" Elemente ausschied. In bezug auf dieses Vorgehen bestand Übereinstimmung zwischen Lübbe und Marquard sowie den beiden anderen Köpfen, die Hacke in diesem Zusammenhang behandelt: Ernst-Wolfgang Böckenförde und Martin Kriele. Sie der "Ritter-Schule" zuzuschlagen, ist zwar nur mit einer gewissen Gewaltsamkeit möglich, aber die Grundhaltung weist tatsächlich Ähnlichkeit auf, auch die Neigung, sich politisch so zu positionieren, daß man unangreifbar bleibt (Lübbe vorübergehend, Böckenförde dauerhaft bei der Sozialdemokratie).

Diese Art von Geschick unterscheidet die Genannten deutlich von jenen, die Hacke lediglich kursorisch erwähnt, aber eben nicht behandelt, obwohl sie anders als Böckenförde und Kriele ganz sicher zur "Ritter-Schule" gehörten: Bernard Willms, Reinhart Maurer und Rohrmoser. Der Grund dafür ist, daß sie seinem Konzept von "Liberalkonservatismus" widersprechen. Die gedanklichen Ausgangspunkte von Maurer, Willms und Rohrmoser waren - bei aller Unterschiedlichkeit im Detail - dezidiert liberalismuskritisch, nicht antiliberal im traditionellen Sinn, aber bei Maurer wegen der Orientierung an Platon und der Beschäftigung mit ökologischen Fragen, bei Rohrmoser durch den Bezug auf das Christentum und bei Willms durch den Rekurs auf Nation und Idealismus immer mit Vorstellungen verknüpft, die jedenfalls nicht zu dem paßten oder passen, was Lübbe oder Marquard vertreten.

Warnung vor "Kerenskis der Kulturrevolution"

Die Klärung der Frage, wie es zu dieser Spaltung der "Ritter-Schule" gekommen ist und was beispielsweise Willms dazu gebracht hat, seine ursprünglich linke Position aufzugeben und eine rechte zu entwickeln, wäre geistesgeschichtlich wesentlich aufschlußreicher gewesen als die Rechtfertigung der "neubürgerlichen" Position.

Wahrscheinlich muß man aber noch einen weiteren Schritt gehen und beginnen, die Geschichte der intellektuellen Rechten im Nachkriegsdeutschland überhaupt zu rekonstruieren. Dabei wäre es auch möglich, den Hintergrund dessen kräftiger zu zeichnen, was Hacke darzustellen versucht. Dann ließe sich zeigen, wie Lübbe und Marquard in den sechziger und siebziger Jahren vor allem darum besorgt waren, nicht als Parteigänger eines härteren Konservatismus zu gelten. In diesem Lager gab es einige, die in Lübbe und Marquard natürliche Verbündete sahen, aber auch andere, die sie als unsichere Kantonisten betrachteten. Armin Mohler sprach damals von den "Kerenskis der Kulturrevolution", womit er deutlich machen wollte, daß die von jenen bevorzugte Stellung faktisch der Einflußnahme radikalerer Kräfte vorarbeite.

Rohrmoser polemisierte gegen beide Seiten

Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, daß diese Warnung nichts geholfen habe und die Liberalkonservativen persönlich besser davongekommen seien. Aber entscheidend ist doch, daß die Analyse der so apostrophierten "Rechtskonservativen" der Wirklichkeit ungleich näher war. In jedem Fall hatten sie sehr früh darauf hingewiesen, daß sich katastrophale Entwicklungen vorbereiteten, während die Liberalkonservativen mit Beschwichtigung befaßt waren. Wenn man Hacke zustimmt und den maßgeblichen Einfluß letzterer auf die späte Bundesrepublik zugibt, müßte man auch die Mitverantwortung für das Desaster feststellen, das die Gegenwart kennzeichnet.

Es sei damit noch einmal auf die Stellung Rohrmosers zurückgekommen, der in den Debatten über die Erneuerung des Konservatismus immer eine Art Äquidistanz gegenüber der "Pseudoradikalität" von links und der "Pseudoradikalität" von rechts zu halten suchte. Er hat gegen die eine wie die andere Seite scharf polemisiert, aber immer erkennen lassen, wieso er die Kritik der Linken aus prinzipiellen Gründen formulierte, aber die der Rechten - etwa Gehlens - aus dem Empfinden eines Zuviel. Ihm erschien die "zynische Genugtuung darüber" unangemessen, "daß eine Theorie ... sich laufend durch die Realität so glänzend bestätigt sehen kann".

Indes, genau hier liegt das Zentrum der konservativen Position, in der Bereitschaft, die Wirklichkeit zur Geltung kommen zu lassen und ein theoretisches Instrumentarium zur Anwendung zu bringen, das angemessene Aussagen über deren Verfassung erlaubt. Wenn Rohrmoser heute Gehlen - insoweit es um dessen systematische Arbeit geht - sehr viel wohlwollender behandelt als in früherer Zeit, dann wohl auch wegen des stillen Eingeständnisses, daß hier jemand die Lage früher und deutlicher erkannt hat.

Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, gebunden, 323 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Günter Rohrmoser: Zynische Genugtuung empfand er als Zuviel


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