© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/07 22. Juni 2007

Arte lüftet den Schleier: Westliche Lebensart oder die Rituale der Großväter
Im Schatten der Blutrache
Christoph Martinkat

Andere Länder, andere Sitten, so lautet ein altes Sprichwort. Es markierte jahrhundertelang die Differenz im Alltagsleben verschiedener Kulturen. Doch damit scheint es heute - in Zeiten von Massenmigration und globaler Weltwirtschaft - ein für allemal vorbei zu sein.

Fremde Sitten finden sich mittlerweile überall. Darunter gibt es einige, die im aufgeklärten Europa längst in Vergessenheit geraten sind. Es geht um archaische Rechtsinstitute wie Zwangsehe, Blutrache und Ehrenmord.

Laut einer Studie des BKA gab es in den letzten zehn Jahren mehr als 50 Ehrenmorde in Deutschland. Für öffentliches Aufsehen sorgte vor allem der Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005. Der jungen Kurdin aus Berlin - Mutter eines sechsjährigen Sohnes - wurde zum Verhängnis, daß sie sich aus ihrer Zwangsehe befreite, um fortan nach westlichen Werten zu leben. Die Bluttat an Hatun gestand letztlich ihr jüngster Bruder. Und dies, obwohl die Hauptbelastungszeugin, seine Ex-Freundin, den Akt der Selbstjustiz als familiären Gemeinschaftsplan enttarnte. Die Aussage jedoch kam vor Gericht nicht durch, obwohl sie dem typischen Strickmuster von Ehrenmorden entsprach: vom tödlichen Beschluß des Familienoberhaupts über den gemeinschaftlichen Mord durch die Söhne bis hin zur Version von der Alleintäterschaft des jüngsten von ihnen. Der kommt mit einer Jugendhaftstrafe davon, während die Familie ihn als Märtyrer feiert.

Die Mauer des Schweigens ist kaum zu brechen

Beweisen kann man den gemeinschaftlichen Ehrenmord nur im Ausnahmefall. Zu stark bindet das familiäre Schweigegelübde, wer es bricht, könnte das nächste Opfer sein. Daß der Mordfall Sürücü überhaupt aufgedeckt werden konnte, war nur dem Mut einer Freundin des Opfers und deren Mutter zu verdanken. Sie hatten der Polizei von den familiären Morddrohungen berichtet und leben heute in einem Zeugenschutzprogramm an unbekanntem Ort. Wieder einmal hatte die familiäre Mauer des Schweigens über die Strafverfolgung obsiegt.

So kann es nur Aufgabe der Öffentlichkeit sein, sich derartiger Fälle verstärkt und vor allem früher als bislang anzunehmen. Zwar wurde gerade der Fall Hatun Sürücü von allen möglichen Medien begleitet und zum Teil scharf angeprangert, doch geholfen hat es dem Opfer nicht mehr und die Familie wohl kaum berührt.

Da darf es bereits als ermutigendes Zeichen gewertet werden, wenn aktuell eine Dokumentation, die in zweijähriger Zusammenarbeit mit einer betroffenen Familie entstand, ins Fernsehen kommt - wenn auch leider zu nachtschlafender Zeit.

Das Gerichtsurteil war mitnichten der Schlußpunkt

"Im Schatten der Blutrache" (Mo., 25. Juni, 23.30 Uhr, Arte) erzählt eine Geschichte, deren Ausgangsparameter dem Fall Sürücü auffällig ähneln. Wieder geht es um eine kurdische Familie , die vor mehr als 30 Jahren nach Deutschland kam. Wieder entzündet sich der tödliche Konflikt an einer selbstbewußten Frau, die durch Selbständigkeit und westliche Lebensart auffällig wird und damit die traditionellen Familienbande ins Wanken bringt. Auch sie trennt sich von ihrem Ehemann, der sie demütigt und schlägt, und bringt damit die blutige Fehde ins Rollen. Anders jedoch als bei Hatun Sürücü, geht es im Fall von Gülnaz M. nicht um den sogenannten Ehrenmord, sondern um das ebenso archaische Delikt der Blutrache. Gülnaz' Leben wird von ihrem Ex-Ehemann und dessen Verwandten bedroht. Als ihr älterer Bruder Adil, der seine Schwester bei der Scheidung unterstützte, eines Tages angeschossen wird, gibt es den ersten Toten: Gülnaz' Bruder Zalim erschießt in Bielefeld einen Verwandten ihres Ex-Mannes. Er und ein weiterer Bruder werden daraufhin zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch das Urteil setzt mitnichten einen Schlußpunkt: Die Blutrache geht weiter.

Den Filmemacherinnen Jana Matthes und Andrea Schramm ist es gelungen, ein sensibles wie differenziertes Porträt einer Familie zu zeichnen, die längst keine mehr ist: Zalim und sein Bruder sitzen in Haft; Adil lebt nur noch im Schutze von Überwachungskameras, Gülnaz' Kinder leuchten des Nachts mit Taschenlampen ängstlich in die Dunkelheit. Und es gibt niemanden, der dem alltäglichen Wahnsinn Einhalt gebietet - ein Leben "im Schatten der Blutrache" eben.

Foto: Familienschicksal: Gülnaz' Tochter Evelyn am Tag ihrer Hochzeit, Zalim im Gefängnis, Gülnaz zwischen dem Hochzeitspaar, Adil (von oben).


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