© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/07 15. Juni 2007

Der belagerte Themenpark
G8-Treffen: Zwischen Zaungästen und Gipfelstürmern in Heiligendamm /Beobachtungen eines JF-Reporters auf einem virtuellen Gipfel
Christian Dorn

Drei Jahre vor dem ersten, damals noch zwanglosen G6-Treffen auf Schloß Rambouillet 1975 hatte der französische Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe René Girard seine Studie über die allen sozialen Gemeinschaften zugrunde liegende "Gründungsgewalt" veröffentlicht, Titel des Werks: "Das Heilige und die Gewalt". Daran erinnert fühlt sich, wer vergangene Woche die Belagerung des Gipfeltreffens der sieben wichtigsten Industrienationen und Rußlands in Heiligendamm miterlebt, wo das Schicksal einer neuen Weltgemeinschaft wenn schon nicht verhandelt, so immerhin besprochen werden sollte. Dies hatten bis zu 2.500 Gewalttäter schon im unmittelbaren Vorfeld zu stören versucht, als sie in der Rostocker Innenstadt Scheiben einwarfen, Autos in Brand steckten und die Polizei mit Steinen angriffen (JF 24/07). Der Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft in Nordrhein-Westfalen, Rainer Wendt, klagte daraufhin, Deutschland sei das einzige Land, wo "Polizisten immer wieder hundertschaftsweise zur Steinigung freigegeben" werden.

Zum Totschlag kommt es am Ende nicht, und doch wird ein Opfer gebracht: Das Gewaltmonopol des Staates, das die von 200 Meter auf sechs Kilometer ausgeweitete Bannmeile sichern soll, wird auf ganzer Linie gebrochen. Sämtliche Zufahrtswege zum Tagungsort Heiligendamm sind zeitweise durch bis zu 16.000 Demonstranten blockiert, Straßen ebenso wie Bahnstrecke. Die Polizei wird vorgeführt und verhöhnt, und die Einsatzleitung verklärt den Tatbestand des Landfriedensbruchs, die Preisgabe der staatlichen Sicherheitszone, zum Ergebnis erfolgreicher Deeskalations-Taktik.

Wie diese aussieht, zeigt sich exemplarisch vor dem Sicherheitszaun des G8-Gipfels hinter Bad Doberan. Dort, auf der vielleicht schönsten Allee Deutschlands und unmittelbar vor der ältesten Galopprennbahn Europas, blockieren am Mittwochnachmittag etwa 4.000 Demonstranten die Fahrbahn und belagern das danebenlaufende Gleisbett der Schmalspurbahn, die auf den Namen "Molli" hört. Die Strecke ist für die Zeit des Gipfels stillgelegt. Steine finden sich hier reichlich, um sie Richtung Polizei zu schleudern, die mit dem Rücken zur Wand respektive Sicherheitszaun steht. Die Situation ist angespannt.

Pausenlos werden die Polizisten provoziert, an vorderster Front von den Angehörigen der "Rebel Clowns Army", die sich zum Großteil aus dem niedersächsischen Wendland rekrutiert. Mit Maßband wird der Fußabstand der Polizisten gemessen, man imitiert ihre Aufstellung, umstreichelt sie mit Staubwedeln, streckt ihnen die Zunge raus und vollführt Gesten der Masturbation und Kopulation. Über Megaphon verkündet eine Sprecherin den Sieg: "Wir haben erreicht, daß der G8-Gipfel mit einem Notfallplan per Schiff und Hubschrauber bewältigt werden muß." Die Masse johlt.

Greenpeace verdrängt sachliche Informationen

Derweil kursieren immer neue Gerüchte und Nachrichten über bevorstehende Gewalttaten. Angeblich würden neben der Strecke der Schmalspurbahn "Molli" gerade Mollis gebastelt. Gleich werde die Polizei vorrücken. Schwarz vermummte Gestalten mit Funkgerät laufen vorbei, offensichtlich koordinieren sie die Aktionen im rechtsfreien Raum der Bannmeile. Plötzlich eine Menschentraube auf dem Kornfeld neben der Straße: Fast 50 Personen umringen einen als "Autonomen" verkleideten Zivilpolizisten. Die Vertreter vom Anti-Konflikt-Team der Blockierer umklammern den am Boden liegenden vermummten Mann, um ihn zu schützen. Aufgebrachte Gipfelgegner versuchen seiner habhaft zu werden, treten, schubsen, wollen ihm die Maske vom Gesicht reißen - es geht augenscheinlich um Leben und Tod. Im buchstäblich allerletzten Moment gelingt es, den verletzten Beamten im stolpernden Laufschritt der etwa 80 Meter entfernten Polizeikette zuzuführen, hinter der er sogleich wie hinter einer Wand verschwindet.

Auf die andere Seite dieser Wand gelangt man indessen ausschließlich von der gegenüberliegenden Seite - dem Pressezentrum in Kühlungsborn, das nur mit Akkreditierung und durch eine Sicherheitsschleuse zu betreten ist. Dort angekommen, sehen sich die Berichterstatter in einer abgeschirmten Zwischenwelt, einem Leichtbau aus Aluminium, Stahl und Glas, einer Raumfähre ähnlich, die "mitten im Niemandsland gelandet ist", wie der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung bemerkt. Die Journalisten aus aller Welt sitzen an langen Tischreihen im oberen Stockwerk vor ihren Notebooks. Zum Tagungsort der G8 im sieben Kilometer entfernten, ältesten deutschen Seebad Heiligendamm besteht nur eine virtuelle Verbindung in Form großformatiger Fernsehbilder, die augenscheinlich ohne Ton auskommen.

Unterhalb des Pressezentrums, im weißen Pavillon "Land der Ideen", wird neben großen Badehandtüchern das in Plastikfolie verpackte Eisbärbaby Knut als kuschelweiches Plüschtier verteilt. In Ermangelung wichtigerer Nachrichten flimmern über den einzigen, großflächigen Plasmabildschirm Bilder von der zeitweiligen Haftentlassung Paris Hiltons gegen Auflage einer elektronischen Fußfessel. Gefangen nehmen dagegen die Bilder am Donnerstagmorgen, als direkt vor dem Strand eine Reihe Greenpeace-Schlauchboote in die Sperrzone eindringt. Die gesamte Reporterschar stürmt auf die "Brücke" des Presseraumschiffs oder gleich hinunter an den Strand - vorbei am beinahe menschenleeren Pavillon.

Dort, im "Land der Ideen", moderiert derweil der Journalist und Publizist Hajo Schumacher die wohl hochkarätigste Veranstaltung des gesamten Gipfels. Wissenschaftler aus aller Welt stellen ihre, teils auf jahrzehntelanger Forschungsarbeit basierenden Ergebnisse vor - innovative Projekte in den Bereichen Umwelt, Wirtschaft, Medizin, Finanzen. Sämtlich Themen, die den Gipfel bestimmen sollen. Aber die anwesenden Journalisten lassen sich an zwei Händen abzählen. Das von der Umweltschutzorganisation gebotene mediengerechte Spektakel ist mehr nach ihrem Geschmack.

Wer sich indessen dem virtuellen Gipfel nähern will, muß zunächst durch eine zweite Sicherheitskontrolle, bei der nach Sprengstoff und Rauschgift gesucht wird. Ist man hindurch, erwarten einen unter Umständen noch zwei Stunden Anreisezeit - für eine Bahnstrecke, auf der die Fahrt eigentlich nur knapp zehn Minuten dauert. Die ersten zwei Tage ist die Strecke der Schmalspurbahn "Molli", mit der die Journalisten in das "Briefingcenter" des Tagungsortes Heiligendamm gelangen sollen, durch Schienenblockaden lahmgelegt. So auch Donnerstagmittag. Doch noch ahnt niemand etwas davon. Alle Zugreisenden warten auf den Pfiff des Schaffners.

"Polizisten, die nicht wußten, was sie sollten"

Dann informiert ein Beamter des Bundeskriminalamtes über die abermalige Blockade des Schienenwegs. Wann und wie es jetzt nach Heiligendamm geht, weiß niemand. Schließlich kommt ein erster Bus, der die Berichterstatter zur Schiffsanlegestelle fahren soll. Nicht alle können mitkommen - unter denen, die auf den nächsten Bus warten müssen, steht Dan Bartlett, der Berater des amerikanischen Präsidenten: auch er ein Opfer der Gipfelblockierer. In einer stürmischen Bootsfahrt geht es schließlich nach Heiligendamm.

Begleitet von BKA-Beamten geht es in Heiligendamm vorbei an einer Reihe dunkler Staatskarossen, darunter die mit Abstand längste Limousine, der "Sil" des russischen Präsidenten. Im Briefingcenter, direkt am Bahnhof gelegen, setzt sich die virtuelle Realität fort. Denn auf den TV-Monitoren des Pressecontainers sind die Fernsehbilder von N 24 über weite Strecken die einzige Verbindung zum Gipfelgeschehen, das zwar nur wenige Meter entfernt stattfindet und doch unerreichbar weit weg ist. Wer auf der einzigen Parkbank des Bahnsteigs Platz nimmt, sieht über den drei Meter entfernten Gartenzaun hinweg ein Standbild von Heiligendamm - in der Ferne links das weiße Kempinski-Hotel, daneben Rasen und dahinter die Ostsee. Der einzige Blick auf Heiligendamm erscheint damit genauso unwirklich wie die Fernsehbilder, da direkt hinter den Gleisen die verbotene blaue Zone beginnt (die aber noch weit entfernt von der roten ist).

Als "surreal nature" bezeichnet ein weitgereister englischer Korrespondent seine Wege in den "Themenpark" Heiligendamm - erst per Schiff, am zweiten Tag via Helikopter, schließlich per Bahn. "Nie zuvor", so der Korrespondent, habe er "so viele Polizeibeamte an einer Stelle gesehen, die nicht wußten, was sie tun sollten." Wir befinden uns im Raum 1, Angela Merkel erscheint gleich zur Abschlußerklärung, und sie weiß, was zu tun ist: die weitgehend unverbindlichen und substanzlosen Verlautbarungen als Erfolg zu verkaufen. Souverän begegnet sie den anschließenden Fragen, etwa, ob Deutschland angesichts der Klimadebatte seine Haltung zur Kernkraft überdenken müßte. "Mit unserer Haltung sind wir in der G8 absolut in der Minderheit."

Bei dem anschließenden Pressetermin Putins drängeln sich die Journalisten - ist es doch einer der seltenen Termine, in denen der russische Präsident sich noch einer freien Presse zu stellen hat. Nach seiner von Platitüden geprägten Rede sind lediglich drei Fragen zugelassen. Als die letzte Fragestellerin aufgerufen wird, springt der 20jährige Konstantin Schuckman von der Fraktion der Nationalbolschewisten des oppositionellen Dachverbandes "Anderes Rußland" auf, hastig öffnet er seine Tasche und wirft Flugblätter in den Raum, die über Putins "Tyrannei unter der Maske der Demokratie" aufklären. Ein Sicherheitsbeamter Putins, der auf den Mann losstürzen will, wird geistesgegenwärtig von diesem zurückgerufen. Putin läßt sich ein Flugblatt des "netten jungen Mannes" nach vorn reichen und erwidert schließlich formelhaft etwas von freier Meinungsäußerung unter der Respektierung der demokratischen Ordnung. Während Putin den Raum verläßt, scharen sich zahllose Journalisten um den vielleicht einzigen politischen und mutigen Akteur des Gipfeltreffens. Der Chefreporter einer Nachrichtenagentur setzt sich auf den Stuhl, auf dem gerade noch Putin saß, und fragt in die Runde: "Aber Präsidentschaftswahl in Rußland ist nächstes Jahr, oder?"

Foto: Perfekte Inszenierung: Journalisten und G-8-Regierungschefs in Heiligendamm


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