© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/07 15. Juni 2007

"Das ist versuchter Mord"
Die Gewalt von links in Heiligendamm wird verharmlost, meint SPD-Urgestein Karl-Heinz Funke
Moritz Schwarz

Herr Funke, Ihr Parteigenosse Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises, hat gefordert, die Anti-G8-Steinewerfer von Rostock wegen versuchten Mordes anzuklagen.

Funke: Sehr gut! Nur zu!

Allerdings gab es so gut wie keine Unterstützung aus den eigenen Reihen.

Funke: Das ist schlimm. Denn darum geht's bei der ganzen Sache doch eigentlich: Wenn mir einer mit einem faustgroßen Stein gegenübertritt und diesen dann auf mich wirft, was ist das anders als versuchter Mord?

Zum Beispiel: Eine angemessene Reaktion auf die Provokationen der Polizei?

Funke: Also entschuldigen Sie mal! Ich bin ja per Alter auch ein Achtundsechziger: Ich habe damals gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Dabei habe ich auch erlebt, daß die Polizei in einer Art und Weise reagiert hat, die ich nicht für angemessen gehalten habe, aber deshalb hat mich doch die bloße Polizeipräsenz nicht provoziert. Was sind denn das für beliebige Argumente?

Das müssen Sie etwa Claudia Roth fragen.

Funke: Was ist denn das für eine Friedfertigkeit, die schon beim Anblick von Polizisten gewalttätig wird? Ich behaupte, wer wirklich in friedlicher Absicht demonstriert, den kann die pure Anwesenheit der Polizei nicht reizen. Ich will Ihnen mal was sagen: Stellen Sie sich doch mal vor, Sie sind ein diensthabender Polizist, und da kommen plötzlich gewaltbereite Vermummte, die Sie mit Steinen bewerfen: Wer provoziert denn da wen? Wenn dann ein Polizist, der unter Umständen Angst um sein Leben hat, überreagiert - dafür habe ich Verständnis!

Na gut, aber ist das, was Sie und Johannes Kahrs "versuchten Mord" nennen, nicht der Kampf für eine bessere Welt?

Funke: Nein, Leute, die das Demonstrationsrecht - das ein friedliches ist, das hinzuzufügen wird meist vergessen! - durch die Ausübung von Gewalt mißbrauchen, ob von links oder rechts, verhalten sich grundgesetzwidrig. So einfach ist das.

Das sieht die Presse offenbar anders, wer Steine wirft, dem wird durchaus ein Mikrophon hingehalten, um zu erklären, welcher gerechte Zorn ihn treibt.

Funke: Diese Logik halte ich hochgefährlich! Sie kämpfen alle immer für das Gute. Ich kennen keinen politischen Gewalttäter, der sagt, er streite für das Schlechte. Aber wenn man duldet, daß jemand im Namen des von ihm für richtig und gut Befundenen das Recht außer Kraft setzt, dann regiert nichts weiter als der Terror. Jawohl, das muß man klar sagen: Das ist Terror! Darauf berufen sich alle Terroristen, von links bis rechts: "Ich darf die Regeln außer Kraft setzen, weil ich das Gute verkörpere! Wir sind eine Minderheit, aber wir haben die Wahrheit gepachtet! Alle anderen sind böse oder zu blöde." Nein, diese Logik muß schon im Ansatz bekämpft werden.

Und sehen Sie die Entschlossenheit dazu in Ihrer Partei?

Funke: Ich würde mich freuen, wenn meine Partei sich ungeteilt zu dieser Position bekennen würde. Aber es gibt leider Teile der Partei, die die Prioritäten falsch setzen: Zum Beispiel, wenn ich hören muß, daß Parteigenossen Presse-Interviews zum Thema mit den Worten beginnen: "Zunächst muß betont werden: Es gibt das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit ..." Statt an erster Stelle klar zu sagen: "Wer sich bewaffnet oder Gewalt anwendet, der verwirkt das Recht auf Demonstrationsfreiheit!" Denn das Wichtigste, was man als Demokrat tun kann, ist durch diese Klarstellung das Recht auf Demonstrationsfreiheit vor Mißbrauch zu schützen. Gewalt hat mit Demonstra- tionsfreiheit nichts, aber auch gar nichts zu tun, sondern ist im Gegenteil ein Angriff auf die Freiheit!

Aber wie verbreitet ist diese Ansicht bei der SPD noch? Was meinen Sie mit "Teile der Partei"?

Funke: Das ist die Frage. Ich kann nur sagen, wo ich zu Hause bin, da denkt die ganze Partei so. Aber es gibt andere Teile, meistens aus großstädtischem Milieu, die, ausgestattet mit entsprechenden Illusionen, eben anders daherreden.

Zum Beispiel bei den Jusos?

Funke: Die Probleme kenne ich auch. Allerdings nicht "alle Jusos", sondern einige. Man ist ja bei uns Juso kraft Alters, nicht kraft Verstandes. Da gibt es sehr vernünftige, aber es gibt auch Leute von unendlicher Naivität. Denen empfehle ich, so einen Einsatz mal auf Polizeiseite mitzumachen. Wenn wir damals bei einer unserer Demonstrationen an einem Krankenhaus vorbeikamen, dann ging extra einer herum und meldete: "Krankenhaus! Bitte Ruhe!" Und dann war auch Ruhe im Karton, damit wir die armen Leutchen bei der Genesung nicht störten. Wenn heute Läden geplündert oder Autos demoliert werden, dann kann mir keiner erzählen, daß das die Täter ursprünglich gar nicht wollten. Quatsch! Die gehen dahin mit dem Vorsatz, bei so was mitzumachen. Wie soll man sich das sonst vorstellen? Die Leute wollen nur ganz friedlich protestieren, und dann plötzlich zwingt sie der Anblick von Polizisten oder eines Sicherheitszaunes, einen Supermarkt auszuräumen oder einen PKW umzustürzen? Das glaubt doch kein Mensch!

Der ehemalige FDP-Innenminister Gerhart Baum meinte am Sonntag bei "Sabine Christiansen", unser Rechtsstaat sei tatsächlich in Gefahr - durch die Reaktion der Polizei.

Funke: Da kann ich nur sagen, vielleicht sollte sich Herr Baum - mit Verlaub - mal untersuchen lassen. Nein, ich halte es da lieber mit Männern, die ich kenne und achte und von denen ich weiß, daß sie abwägen, wie etwa mein Parteigenosse Harald Ringstorf, die auch der Meinung sind, nicht der Rechtsstaat und seine Organe ist der Verursacher der Eskalation, sondern diejenigen, die das Demonstrationsrecht mißbrauchen. Wenn ich Bilder von Demonstranten sehe, die mit faustgroßen Plastersteine zum Wurf ausholen, dann hat das für mich nichts mit Bürgerrecht, sondern mit Kriminalität zu tun. Das muß man mal beim Namen nennen.

Wer in der Debatte hat das zu Ihrer Zufriedenheit getan?

Funke: Das ist ja das Traurige, wir in der Politik haben uns inzwischen angewöhnt, nichts mehr richtig beim Namen zu nennen.

Sie plädieren also für mehr "Populismus"?

Funke: Sie können das meinetwegen Populismus nennen. Populismus ist erlaubt, Opportunismus nicht! Ich glaube, das Volk vermißt, daß der Politik Klarheit und Schneid fehlen, die Dinge so anzusprechen, wie sie tatsächlich liegen. Deshalb haben wir inzwischen ja auch allgemein eine so wunderbar hohe Wahlbeteiligung!

Und welche wahren Worte sind es, die das Volk vermißt?

Funke: Wenn ich mit den Leuten rede, dann haben sie alle eine klare Meinung: Ich kenne wirklich niemanden, der gegen die Inanspruchnahme des Demonstrationsrechtes ist. Aber alle sagen auf der anderen Seite, daß diese Gewalt eine Herausforderung ist, die sich der Staat im Sinne des Schutzes unserer Freiheit nicht gefallen lassen darf, wo er klar Position beziehen und Stärke zeigen muß. Mit einem Wort: einsperren und angemessen verdonnern! Was soll man denn sonst jungen Leuten sagen, wenn sie bei vergleichsweise geringen Delikten mit Sanktionen belegt werden? Mein Gott, wenn ich bedenke, was ein Bürger zu gewärtigen hat, der - ohne das verharmlosen zu wollen - zweimal in der Dreißiger-Zone sechzig gefahren ist, und für Leute, die Steine auf andere werfen finden wir alle möglichen Ausreden, nur weil sie dabei "Smash Capitalism!", "Schuldenerlaß für Afrika!" oder "Rettet das Klima!" schreien. - Es ist lächerlich und absurd.

CDU-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach meint, der Vorschlag Johannes Kahrs' erfülle "den Tatbestand des groben Unfugs".

Funke: Da sehen Sie, ebenso wie an den jüngsten Äußerungen Baums oder Sabine Leutheuser-Schnarrenbergers, daß nicht allein meine Partei diese Probleme hat.

Die Union genießt allerdings mitunter den Ruf, die "Law and Order"-Partei zu sein.

Funke: Ich äußere mich in dieser Sache zu meiner Partei, aber nicht zur Union, das ist deren Sache. Nur soviel: Die Vernünftigen und Unvernünftigen sind in allen Parteien leider nach der Gauß'schen Normalverteilungskurve verteilt.

Auch kein Kommentar zu Heiner Geißlers jüngstem Diktum: "Wenn mich einer anfaßt, dann schlage ich zurück - und wenn es ein Polizist ist, dann schlage ich zurück."

Funke: Da verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich frage mich, wer lebt eigentlich noch in der Realität: er oder ich?

Bei unzähligen Demonstrationen finden sich SPD-Gliederungen auf der Veranstalterliste in trauter Einigkeit auch mit linksextremen, zum Teil mit vom Verfassungsschutz beobachteten, durchaus auch der Gewalt nicht abholden Organisationen wie zum Beispiel der Antifa.

Funke: Wer weiß, daß sich Extremisten oder Gewaltbereite an einer Demonstration beteiligen, der muß sich von diesen klar distanzieren! Andererseits kann man aber nicht auf eine Demonstration verzichten, nur weil die Gefahr besteht, daß solche Leute da mitmachen. Das wäre der erste Schritt, den Rechtsstaat zu beseitigen. Es gab ja auch den Vorschlag, den G8-Gipfel auf eine Insel zu verlegen. Verdammt nochmal, wie absurd! Der Staat muß sowohl garantieren, daß Politiker sich versammeln wie daß Bürger in Frieden demonstrieren können.

Im "Kampf gegen Rechts" gilt das Verbieten und Verhindern friedlicher Demonstrationen von Neonazis allerdings als legitim.

Funke: Es ist doch Unsinn, eine Demo zum Beispiel für den Erhalt von Arbeitsplätzen abzusagen, weil da auch NPD-Leute hinkommen. Natürlich muß man sich klipp und klar von ihnen abgrenzen, aber wenn sie friedlich mitmarschieren, sollen sie in Gottes Namen mitmarschieren. Wir können nicht die Meinungsfreiheit abschaffen, um Neonazis zu bekämpfen.

Ständig heben aber genau deshalb Gerichte entsprechende Behördenbescheide auf. Obwohl es also offenbar eine Kernfrage unseres freiheitlichen Selbstverständnisses betrifft, gibt es darum keine Debatte. Wie ist das zu erklären?

Funke: Das Problem gilt doch generell: Ich kann nicht verhindern, daß bei großen Demonstrationen auch Leute dabei sind, mit denen ich nichts zu tun haben will. Die Stärke unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates zeigt sich darin, daß man andere Meinungen nicht verfolgt, sondern politisch bekämpft.

Die "Bild am Sonntag" titelte letzte Woche mit dem Wort "Schande!" und zeigte darunter zwei Fotos: steinewerfende Autonome und nicht gewalttätige Demonstrierende NPD-Anhänger. Ist die Gewalt von links nur so schlimm wie die bloße Präsenz von rechts?

Funke: Unsere Familie hat nie etwas mit der NSDAP zu tun gehabt, im Gegenteil, sie hat unter ihr gelitten. Ich halte die NPD-Auffassungen außerdem politisch für höchst widerlich - aber jemand, der mit Steinen wirft, ist für mich eindeutig schlimmer als ein friedlicher Neonazi.

Hat Heiligendamm einmal mehr bewiesen, daß wir Polizisten als Prügelknaben der Nation betrachten?

Funke: Wir nehmen die Polizei nicht ausreichend in Schutz, wir loben sie auch zu selten für das, was sie leistet. Ohne Polizei wäre unser Recht auf freie Meinungsäußerung futsch! Die jungen Leute in Uniform stehen doch da, damit normale Bürger wie Sie und ich in Sicherheit vor Gewalttätern ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit ausüben können. Ich stelle mir vor, mein Sohn wäre bei der Polizei: Da zittert man bei solchen Bildern doch um sein Leben! Wir hatten in diesen Tagen Heuernte, aber in Gedanken waren wir in der Familie ganz bei den jungen Polizisten in Rostock und Heiligendamm.

 

Karl-Heinz Funke, Bundesminister a.D.: Der eingefleischte SPD-Mann, Parteimitglied seit 41 Jahren, war bis 2001 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Funke ist in seiner Heimat und Partei tief verwurzelt. Zwanzig Jahre vertrat der konservative Sozialdemokrat die SPD im niedersächsischen Landtag, acht Jahre diente er ihr unter Gerhard Schröder als Landesminister in gleicher Verantwortung wie nach seinem Wechsel 1998 ins Bundeskabinett. Heute ist der 61jährige Landwirt und engagierte Protestant, der Staats- und Wirtschaftswissenschaften, Germanistik und Geschichte studierte, Ratsvorsitzender und stellvertretender Bürgermeister seiner Vaterstadt Varel in Friesland.

 

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