© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/07 08. Juni 2007

Der Markt schafft's nicht
Globalisierung: In Indien und China drohen politische Instabilitäten
Erhard Haubold

Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat recht, wenn er die Erweiterung der G8 um mindestens zwei Mitglieder fordert. Die asiatischen Giganten Indien und China, die der Ökonom Jairam Ramesh "Chindia" nennt, beherbergen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung, sind Atommächte und haben dynamische Volkswirtschaften, die um beinahe zehn Prozent im Jahr wachsen.

Vor allem aber trägt "Chindia" in wachsendem Maße zur Erderwärmung bei. In Indien sind im letzten Jahr fast eine Million Personenwagen und sieben Millionen Motorräder verkauft worden. Noch mehr werden es sein, wenn das neue Tata-Auto auf den Markt kommt, das nur 2.500 Dollar kosten soll.

Peking hat Anfang der Woche verlauten lassen, daß die Volksrepublik ihren Beitrag zum weltweiten Klimaschutz leisten wolle, daß die wirtschaftliche Entwicklung aber weiterhin Priorität genieße. Ungehindertes Wachstum gibt den chinesischen Kommunisten die Legitimation, weiterhin einen Ein-Parteien-Staat mit geringen politischen Freiheiten zu führen. Und in Indien, der größten Demokratie der Welt, ist es kaum anders. Hier gehen alle vier Jahren mehr als 500 Millionen Menschen zur Wahlurne, hier müssen immer noch fast vierzig Prozent der Bevölkerung mit weniger als einem Euro am Tag auskommen.

Auch in Zeiten der Globalisierung ist das ein Kampf im Hamsterrad, hat sich nichts geändert an der Formel der Ökonomen, daß mit jedem Prozent Wachstum nur eine Million Menschen über die Armutsgrenze geschoben werden können. Weil Indien demokratisch regiert wird, treten hier "die Probleme der Globalisierung schneller zutage als in einer Diktatur wie China, wo sie länger unterdrückt werden können, aber ganz ähnlich sind", wie die Zeitung The Asian Age schreibt.

In den Großstädten mag das wirtschaftliche Wachstum 20 Prozent betragen, auf den Dörfern sind es weiterhin nur drei Prozent. Die Welt denkt heute nicht mehr an halbnackte Fakire, wenn von Indien die Rede ist, sondern eher an Milliardäre wie Lakshmi Mittal, der das globale Stahlgeschäft beherrscht. "Wie das Rad der Geschichte sich gedreht hat", jubelt die Zeitung The Sunday Express. Indien und China wollen innerhalb eines Jahres unbemannte Flugkörper zum Mond schicken.

Aber von dem "leuchtenden Indien", mit dem die nationalistische Hindu-Partei BJP im letzten Wahlkampf warb, ist auf den 600.000 Dörfern, wo immer noch 700 Millionen Inder leben, wenig zu verspüren. Die Informationstechnologie hat gerade einmal 1,3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen - viel zu wenig für die 70 Millionen jungen Menschen, die in nächsten fünf Jahren auf Jobsuche gehen müssen.

An die 100.000 Bauern haben in den letzten fünf Jahren Selbstmord begangen, erdrückt von Schulden (für Düngemittel) und allgemeiner Hoffnungslosigkeit. Unter ihren Kindern, die den neuen Wohlstand von Bombay oder Delhi im Fernsehen verfolgen können, wächst die Wut. Auch deshalb, weil sie Ackerland verlieren an die "Neuen Wirtschaftszonen" (SEZ) und von einer korrupten Bürokratie oft nur unzureichend entschädigt werden.

Mit den SEZ wollen die indischen Bundesstaaten die Ansiedlung neuer Industrien durch steuerliche und andere Anreize fördern. Und es ist nicht ohne bittere Ironie, daß es die blutigsten Zusammenstöße zwischen protestierenden Bauern und Polizei in West-Bengalen gegeben hat, wo eine demokratisch gewählte kommunistische Regierung länger im Amt ist als irgendwo sonst auf der Welt. "Aus unserer kommunistischen Fahne können wir die Sichel nicht herausschneiden, müssen aber jetzt den Hammer stärken", sagt Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee. "Weil die Einnahmen aus der Landwirtschaft sinken, müssen wir industrialisieren."

Das ist Wasser auf die Mühlen der rebellischen Maoisten, die in Indien heute eine "ausgezeichnete revolutionäre Situation" vorfinden, während Premierminister Manmohan Singh von "der größten internen Bedrohung" seit der Unabhängigkeit spricht. Von der Südspitze Indiens bis hinauf nach Nepal (wo Maoisten nach blutigem Kampf an der Regierung beteiligt sind) zieht sich ein Naxaliten-Gürtel, wo die Rebellen für Recht nach der Art von Robin Hood sorgen. Im Unionsstaat Chhattisgarh ermordeten sie an einem Tag im März mehr als fünfzig Polizisten.

Die Zeitung The Asian Age befürchtet, daß junge Inder sich bewaffnen und um Jobs kämpfen, ja: "einen Bürgerkrieg austragen und die neuen Autostraßen zerstören werden". Das alte Diktum der Weltbank, daß der Wohlstand von den neuen Reichen zu den Armen "durchsickern" werde, läßt sich nur langsam realisieren.

Die Globalisierung bringt wenig Hoffnung für rund 200 Millionen Inder, die nicht ausreichend beschäftigt sind. Der Markt allein schafft es nicht. Und von der staatlichen Hilfe kommt nicht einmal ein Fünftel auf den Dörfern an. Ob das neue Regierungsprogramm, das jedem dörflichen Haushalt 100 bezahlte Arbeitstage (beispielsweise im Straßenbau) im Jahr verspricht, in einem Land mit wuchernder Korruption erfolgreich sein kann, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist aber, daß die gefährlichen politischen Instabilitäten der neuen wirtschaftlichen Giganten Indien und China bei den nächsten Weltwirtschaftsgipfeln zu den wichtigsten Themen gehören werden.


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