© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Ein Faible für Märsche
Grundgediegen: Edward Elgar komponierte Englands zweite Nationalhymne
Wiebke Dethlefs

Für drei der kleineren Musiknationen Europas ist 2007 ein besonderes Gedenkjahr. Norwegen gedenkt am 4. September des 100. Todestags von Edvard Grieg, Finnland erinnert sich am 20. September der 50. Wiederkehr des Ablebens von Jean Sibelius, und Großbritannien feiert am 2. Juni den 150. Geburtstag seines vielleicht bedeutendsten Komponisten der letzten zwei Jahrhunderte.

Denn nach dem Tode Henry Purcells (1659-1695) trat in England bis zum Erscheinen Edward Elgars gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Tat kein Komponist von annäherndem Rang hervor. So steht er für die englische Kunstmusik des späten viktorianischen Zeitalters und insbesondere der edwardianischen Epoche konkurrenzlos da.

Dabei scheint es, als wenn diese Zeiten in ihrer gediegenen Bürgerlichkeit, in ihrer zumindest vordergründigen Sinnenfeindlichkeit die Tonsprache des Komponisten nachhaltig bestimmt hat. Denn Elgar ist ohne jeden Zweifel ein Musiker, der nichts Revolutionierendes an sich hatte und es auch nicht haben wollte, darin am ehesten Johannes Brahms vergleichbar.

Unter Elgars frühesten Werken (um 1890) befinden sich zwei zauberhafte Miniaturen für Salonorchester, "Salut d'amour", op. 12 und das "Chanson de Matin", op. 15. Beide waren vor hundert Jahren auch in Deutschland vielgespielt und weit verbreitet.

Doch dieser gefällig-unverbindliche Stil der Frühzeit machte schnell einer spröden Verinnerlichung bzw. einer Art "aristokratischer Zurückgezogenheit" (H. K. Jungheinrich) Platz, die man vielleicht dem Stil Hans Pfitzners an die Seite stellen kann. So wirken seine Schöpfungen merkwürdig indifferent, obwohl er sein Handwerk zweifellos in außerordentlicher Weise beherrschte.

Elgars Werke der Reifezeit (unter anderem zwei Symphonien, ein Violinkonzert, die sogenannten "Enigma"-Variationen) besitzen bei aller Leidenschaftlichkeit und Pathos nur wenig Temperament, was bereits zu seinen Lebzeiten einen Kritiker zu der Bemerkung veranlaßte, daß man "beim Hören von Elgars Musik an einen britischen Kolonialoffizier im Ruhestand denkt, dem immer noch die Malaria in den Knochen steckt".

Vielleicht mag für diese Einschätzung mitverantwortlich sein, daß Elgar - ganz anders als sein nur fünfzehn Jahre jüngerer Kollege Ralph Vaughan Williams und anders als die für das musikalische Selbstverständnis ihrer Nationen so bedeutenden Gestalten Grieg und Sibelius - den Rückgriff auf Elemente der jeweiligen Folklore des Landes vermeidet, darin diesmal allerdings Brahms ganz unähnlich, der immer im Volkslied sein musikalisches Ideal sah. Daß dennoch kaum ein Komponist als "britischer" denn er gilt, ist aber keineswegs ein Paradoxon, sondern vielleicht gerade auf jene "Unterkühltheit" zurückzuführen.

Und so paßt es ebenso ins Bild, daß er seinen großen Ruhm keineswegs durch "patriotische" Kompositionen, sondern als grundgediegener Symphoniker bzw. Orchester- und Chorkomponist erwarb, der gegen 1905 zum bedeutendsten lebenden britischen Komponisten avanciert war und bald den Adelstitel erhalten sollte.

Allerdings hatte er sein Leben lang ein besonderes Faible für Märsche. Im Werkregister findet man unter der Opuszahl 39 und dem Titel "Pomp and Circumstance" fünf Orchestermärsche, die zwischen 1901 und 1930 ohne direkten äußeren Anlaß entstanden, wobei der erste zu Weltruhm gelangte.

Das stolz-feierliche Thema des Mittelteils dieses Marsches wurde später mit den Worten "Land of Hope and Glory" unterlegt. Bis heute wird er immer als Schlußstück in den "Nights of the Proms" gespielt, und jenes würdig-erhabene Thema ist neben "God save the Queen" Großbritanniens zweite nationale Hymne. Außerhalb Großbritanniens ist dieses Werk die einzige seiner Schöpfungen, mit der Elgar heute noch bekannt ist, wobei der Name des Komponisten dabei nicht immer jedem Hörer bewußt ist.

Doch merkwürdigerweise gehört auch in England ein großer Teil seines Œuvre nicht zum allgemeinen Repertoire. Die großen historisch-religiösen Chorwerke, die zum Bedeutendsten seines Schaffens zählen, wie "Der Traum des Gerontius", "Caractacus", "Die Apostel" oder "Das Königreich" werden mit Ausnahme des ersten auch in Großbritannien nur wenig gespielt.

Nach dem Tod seiner Frau 1918 komponierte er kaum noch, und das wenige, was er schrieb, gehört nicht zum Bleibenden. 1919 entstand noch als letztes größeres Werk ein Cellokonzert, in dem sich ein deutliches Nachlassen der Schöpferkraft manifestiert. Vielleicht war der Niedergang des Britischen Empire nach dem Ersten Weltkrieg der Grund dafür, daß derjenige, der musikalisch so sehr damit identifiziert wurde, nicht mehr schöpferisch tätig sein konnte und wollte. 1934 starb Edward Elgar, hochgeehrt, dabei sich aber selbst gleichsam überlebt habend.

Foto: Edward Elgar (1857-1934): "Kolonialoffizier im Ruhestand, dem die Malaria in den Knochen steckte"


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