© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Alle zehn Jahre eine neue Callas
Abseits vom Mummenschanz: Die Rolle der Manon ist Anna Netrebko auf Körper und Stimme geschnitten
Andreas Strittmatter

Sie war verdächtig, extrem verdächtig, sie räkelte sich, Arien trällernd, im Pool und ließ einen dieser Kreativen, der sonst Musikvideos ganz anderer Prominenz und Provenienz drehte, die Kamera drauf halten. Posierte für Mobilfunkverträge. Man traut ihr auch jetzt noch zu, daß sie den Prosecco aus der Dose trinkt, den Paris Hilton vermarktet. Dem Versprechen, es handle sich hier um die erste große Primadonna des neuen Jahrtausends, mochte man hingegen - oder gerade deswegen - anfangs kaum trauen.

Auch war von einer "neuen Callas" die Rede, und auch das ist Anna Netrebko nicht. Solch "Wunder" wird so ziemlich alle zehn Jahre mit neuem Namen und neuer Penetranz ausgerufen. Doch wer erinnert sich heute noch an Cheryl Studer? Wer denkt derzeit an Angela Gheorghiu? Letztere tauchte jüngst vor allem als Zicke vom Dienst in der Lästerecke des Musiktheaters auf. Sonstig Wundersames rund um Anna Netrebko hat sich ebenfalls entzaubert: Ja, sie schwang den Wischmob im St. Petersburger Mariinsky Theater, um während der Gesangsausbildung unkompliziert in den Genuß von Proben und kostenlosen Aufführungen zu kommen. Nein, Valery Gergiev, oberster musikalischer Zuchtmeister des Hauses und t(r)aktierender Leuteschinder, entdeckte sie trotzdem nicht beim Schrubben, sondern bei einem ganz normalen Vorsingen. Aschenputtel adieu ...

Anna Netrebko - ein überschätztes Phänomen? Jedenfalls reicht allein hochgradiger Sex-Appeal nicht hin, um etwa einen Vollblut-Maestro abseits aller Kunst in Feuer und Flamme zu versetzen, so daß Gergiev die junge Sopranistin nicht nur rasch in Hauptrollen des Mariinsky hievte, sondern zu Gastspielreisen nach Amerika verpflichtete, wo Netrebko erste internationale Erfolge feierte, ehe die Alte Welt sie recht zur Kenntnis nahm. Das holten die Salzburger Festspiele 2002 nach, als die Sängerin mit 31 Jahren als Donna Anna in Mozarts "Don Giovanni" nicht nur die Bühne, sondern auch Ohren, Augen und die Herzen des europäischen Publikums stürmte. Daß sie hernach samt ungewöhnlichem Repertoire in den Olymp der Pop-Platten aufstieg, deutet an, daß nicht nur die Opernwelt gelegentlich kopfsteht, wenn der Name Netrebko fällt.

Im Mai stand Berlin kopf, nachdem die Staatsoper unter den Linden am 29. April Jules Massenets Oper "Manon" mit der russischen Sopranistin in der Titelpartie herausgebracht hatte. Höhepunkt des Netrebko-Fiebers, das der Lindenoper mehr als nur ausverkaufte Vorstellungen bescherte, war eine Übertragung des Spektakels am 19. Mai auf den Platz neben der Oper, wo rund 20.000 Fans zeitweilig eine zur Handlung nicht unpassende Party inszenierten.

Aber auch in Berlin fehlten die Skeptiker nicht. "Ein Freund ist in der Pause gegangen", raunte im Vorfeld ein Angestellter der Deutschen Oper während des Besuchs der dortigen "Semiramide" von Rossini. Die Netrebko sei diesem "zu kalt" gewesen. Neid unter Theaterleuten? Könnte man meinen, doch kurz darauf zieht der Bedienstete über das eigene Haus her, über die "Kieler Bande" der Intendantin Kirsten Harms, die so recht nichts auf die Beine bringe.

Auch andere geben sich reserviert. Vincent Paterson, der die Handlung in ein Frankreich mit Edith-Piaf-Romantik verlegte und so einen bunt bewegten Bilderbogen aufschlug, der selbst am Ende die tote Manon noch atemberaubend schön in ein strahlendes Abendrot tragen läßt, habe als Regisseur die Oper um "die Netrebko" herum inszeniert. Da mag was dran sein. Ebensogut ließe sich jedoch behaupten, Jules Massenet habe seine 1884 uraufgeführte "Manon" um die Russin herum komponiert. So sehr scheint ihr jedenfalls die Rolle auf Körper und Stimme geschnitten - sieht man von der ersten halben Stunde ein wenig ab, da das eher dunkle Timbre der Netrebko nicht recht zu jenem Backfisch passen mag, den Massenet anfangs auf die Bühne stellt.

Der szenischen Präsenz entspricht musikalische Tiefe

Was folgt, ist große Oper, der pure Hedonismus, den das Regietheater oft mit sozialkritischem Überbau zu ummanteln versucht: jener Hedonismus, der dieser Kunstgattung vor allem in der romanischen Ausprägung des 18. und 19. Jahrhunderts eingeschrieben ist, der den Tod der Primadonna zum Orgasmus für die Lebenden verklärt. Anna Netrebko taucht in diese Welt restlos ein, mit der Stimme wie dem Körper, wirft sich abseits von billigem Mummenschanz in die großen dramatischen Posen der Gattung, kokettiert an anderer Stelle mit Liebreiz, oder deutlicher: mit erotischer Ausstrahlung. Doch der szenischen Präsenz entspricht die musikalische Tiefe, im Falle der Sängerin Netrebko also die vokale Potenz. Schwebende Pianomomente sind ihre Sache ebenso wie gurrende Verlockung, die koloraturesken Tontupfer der Gavotte des Cours-la-Reine-Aktes oder der in der Liebe verzweifelte Ausbruch auffahrender Kantilenen, wie sie typisch sind für Massenet: "N'est-ce plus ma main ...? N'est-ce plus ma voix?"

Netrebko hat gewonnen. Es seien die Nuancen, schrieb Stendhal einst in seinem für die Geschichte des Gesangs wichtigen "Vie de Rossini", "die uns von der Echtheit der Leidenschaft überzeugen und unsere Anteilnahme wecken". Anna Netrebko beherrscht diese Kunst. Und macht dabei eine gute Figur.


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