© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

Dauerlauf statt Faulenzen
Gesundheitspolitik: Die Bundesregierung zeigt beim Thema Eßkultur plötzlich Übereifer / Kritik von Experten
Jens Jessen

Die Große Koalition hat endlich ein Thema gefunden, mit dem sie Harmonie nach außen hin demonstrieren kann. Sie will die Fettleibigkeit der Bevölkerung aktiv bekämpfen und das gesunde Leben "als gesellschaftlichen Wert verankern". So steht es im von Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) kürzlich vorgelegten Eckpunktepapier "Gesunde Ernährung und Bewegung - Schlüssel für mehr Lebensqualität".

Mit den schwammigen Absichtserklärungen kann man wenig anfangen. Aus punktuellen Kampagnen eine Langfriststrategie bis zum Jahr 2020 zustande zu bringen, die aus übergewichtigen Deutschen schlanke Landsleute machen soll, ist zu schmalbrüstig, um erfolgreich sein zu können. Nicht sicher ist auch, ob die für drei Jahre beantragten 15 Millionen Euro, die in gesunde Ernährung und mehr Bewegung investiert werden sollen, überhaupt etwas bewirken können.

Fraglich ist diese Wirkung, wie die Verfasser des Eckpunktepapiers selber bestätigen: "Unabdingbar ist dabei, daß möglichst verläßliche wissenschaftliche Aussagen über die Wirkungsverhältnisse von Ernährung und Bewegung zur Verfügung stehen. Es ist zu erforschen, ob und wenn ja wie mit neuartigen Lebensmitteln der Anteil übergewichtiger Menschen gesenkt werden kann." Erst wenn diese Wirkungsverhältnisse unbestreitbare Ergebnisse zeitigen, wird das zentrale Ziel konkretisiert werden können, bis 2020 "das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verbessern", "die Zunahme von Übergewicht bei Kindern zu stoppen" und "die Verbreitung von Übergewicht zu verringern".

Forschen, um Übergewicht bei Kindern zu stoppen

Dabei besteht die Gefahr, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Realität kollidieren. Untersuchungen deuten auf einen Zusammenhang von Übergewicht und Adipositas mit der Einkommenssituation der Verbraucher hin, aber auch auf mangelnde Bildung. Die relative Verarmung eines Teils der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren könnte ein Auslöser der zunehmenden Fettleibigkeit gewesen sein, die das Gesundheitswesen schon heute Milliarden kostet und morgen die Kosten weiter in die Höhe treiben wird. Auch darüber sollte geforscht werden. Die angesprochenen neuartigen Lebensmittel sind vielleicht nicht so wichtig, wenn Seehofer für die Beseitigung irreführender Deklarierungen bei Lebensmitteln sorgen und Warnhinweise für besonders zucker- und fetthaltige Nahrungsmittel durchsetzen würde - bei Zigaretten ist das schließlich auch erreicht worden. Vielleicht ist es auch ganz vernünftig, nicht alle von vornherein als gut apostrophierten Maßnahmen ungeprüft zu übernehmen. Sport soll - neben Gesundheitserziehung und Eßkultur - der guten Figur dienen. Die Sportmedizin als ausgereifte Wissenschaft kann sicher dazu beitragen, den Stellenwert des Schulsports wissenschaftlich abgesichert zu beurteilen und in die Maßnahmen gegen das Übergewicht einzuordnen.

Auch der Begriff "Übergewicht" ist in der Wissenschaft heftig umstritten. Mancher Kritiker der Vorhaben des Eckpunktepapiers vermutet Regulierungs- und Diskriminierungswut der Regierung. Udo Pollmer, wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften, hält die Maßnahmen gegen Übergewicht sogar für kontraproduktiv. Tendenziell förderten sie das Übergewicht noch. "Dick" sei eine "Definitionsfrage und stark vom Zeitgeist und seinem Schönheitsideal abhängig", meinte er in der Welt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet den Body Mass Index (Körpergewicht durch das Quadrat der Größe eines Menschen) als Maßstab. Dessen Aussage wird von vielen Ärzten bezweifelt, da der BMI in den Altersgruppen allgemein und für Frauen und Männer im speziellen nicht gleich ist. Der BMI ist keine Richtgröße, auf der konkrete Aussagen über eine übergewichtige Bevölkerung gemacht werden können. Trendaussagen sind allerdings möglich.

Verwendete Datengrundlage erscheint zweifelhaft

Das Robert-Koch-Institut in Berlin bestreitet, daß die BMI-Daten in den EU-Ländern mit denen in Deutschland vergleichbar sind, da sie in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Methoden erhoben wurden. Die Daten aus Deutschland stammen aus dem Gesundheitsmonitor der Bertelsmannstiftung von 2003. "In diesem Gesundheitsmonitor wurden aber nur Daten der 25- bis 69jährigen berücksichtigt - im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, die auch Daten der 18- bis 24jährigen geliefert haben", kritisierte die Ärzte Zeitung. Dadurch hat sich für die deutsche Bevölkerung ein falscher Wert ergeben. Aus den 75 Prozent übergewichtiger bzw. adipöser Männer wurden bei Berücksichtigung dieser Fehler 67 Prozent und aus den 59 Prozent der Frauen 54 Prozent.

Weitaus alarmierender findet die Bundesregierung die Tatsache, daß 15 Prozent der Jungen und Mädchen im Alter bis 17 Jahren übergewichtig und adipös sind. Die Alarmglocken sollten aber auch für die Mädchen gelten, die unter Eßstörungen leiden und dringender Hilfe bedürfen. Deshalb sollen Kindergärten und Schulen bei Gesundheitserziehung, Eßkultur und Sport einen höheren Stellenwert erhalten.

Zudem hat der Übereifer die beiden Bundesminister in eine Sackgasse geführt: In diesen Bereichen hat der Bund überhaupt nichts zu suchen, denn Schule, Erziehung und Kultur sind bisher Sache der Länder. Die Vermutung liegt nahe, daß die Verhandlungen des Bundes mit den Ländern über ein konkretes Programm bis in das Jahr 2008 dauern werden. Ob sie dann zu einen Abschluß kommen, hängt sicher von der Bewilligung entsprechender Bundesmittel für die Länder ab.

Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: www.bmelv.de

Europäisches Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften: www.das-eule.de

Foto: Dickes Kind mit Chips: Mit neuartigen Lebensmitteln den Anteil übergewichtiger Menschen senken?


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