© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

"Woodstock der Deutschen"
Der deutsche Aufbruch: Demokratiedefizit und Entmachtung der Nationalstaaten machen Hambach wieder aktuell
Moritz Schwarz

Herr Professor Höbelt, vom 27. bis 30. Mai 1832 versammelten sich im pfälzischen Hambach über 20.000 Patrioten. Heute versetzen uns politische Massenveranstaltungen selbst mit Hunderttausenden von Teilnehmern nicht mehr in Erstaunen. Warum sollte uns also Hambach heute noch beeindrucken?

Höbelt: Das Hambacher Fest war sozusagen damals so etwas wie das Woodstock der Deutschen, die sich mit der demokratisch-radikalen Sache identifizieren - wenn eine solche Analogie erlaubt ist. Hambach war die erste politische Großveranstaltung in Deutschland. Denken Sie zum Vergleich an das bis heute bekannte Wartburgfest von 1817 - dort waren es gerade mal rund 500 Teilnehmer! In ganz Europa finden wir damals nur sehr wenige Veranstaltungen, die sich mit Hambach vergleich lassen. Und während das Fest auf der Wartburg ein Treffen der Studenten war, war Hambach wirklich ein Volksfest, wo sich Angehörige aller Schichten des Volkes trafen.

Was wir heute kaum noch kennen: Das Fest war eine ernsthafte politische Veranstaltung und volkstümlich zugleich.

Höbelt: Angesichts der Reizüberflutung heute ist es bei uns völlig unüblich geworden, sich zur Unterhaltung einen Politiker anzuhören. Allerdings, noch bis in den fünfziger Jahren taten die Leute das! Ein Sommerabend. Nichts los. Was machen wir? Gehen wir zur Versammlung!

Das Hambacher Fest, die Mutter aller politischen Demonstrationen?

Höbelt: In der Rückschau kann man das so betrachten, damals aber war das nicht so. Denn Hambach ist nicht deshalb interessant, weil es typisch, weil es sozusagen Ursprung oder Höhepunkt einer langen Kette ähnlicher Ereignisse gewesen wäre, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Es war singulär. Hambach ist deshalb so interessant und besonders, weil es ein Unikum ist.

Also welche historische Bedeutung hat es?

Höbelt: Die historische Bedeutung ist im Vergleich zur symbolischen Bedeutung gering. Nicht zuletzt deshalb, weil die radikale, republikanische Strömung der deutschen patriotischen Vormärz-Bewegung in der Minderheit bleibt, nach 1832 ist sie eher latent als offen vorhanden, statt dessen übernehmen die Liberalen die Führung, sie stellen später die Reformminister, sie dominieren schließlich die politische Revolution von 1848, sprich die Paulskirchenbewegung, die versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen den Konservativen des östlichen und den Radikalen des südwestlichen Deutschlands. Übrigens: Fürst Metternich war möglicherweise ganz zufrieden mit den radikalen Tönen des Hambacher Festes, das ihm zusammen mit dem Frankfurter Wachensturm 1833 weitere Argumente zur Verfolgung der patriotischen Bewegung lieferte. Da findet sich übrigens auf überraschende Weise vielleicht die nachdrücklichste historische Wirkung. Die Verschärfung der Verfolgung brachte nämlich de facto eine Vertiefung der Integration: Betont wurde im Deutschen Bund infolge der Ereignisse von 1832/33 nicht die Souveränität der Mitglieder, sondern die Notwendigkeit der Zusammenarbeit bei der Abwehr der national-demokratischen Bewegung. Wenn auch auf eine Art und Weise, die den Hambachern nicht gefallen hat, entsprach das insofern ihren Zielen, als dies Deutschland stärker zusammenfaßte.

Hambach ist also vor allem als Symbol unserer republikanisch-nationalen Mythologie wichtig?

Höbelt: Ja, natürlich. Und selbstverständlich haben alle Republikaner der deutschen Geschichte, von den Nazis bis zu den Kommunisten, sich auf Hambach berufen.

In der Bundesrepublik fällt das offizielle Gedenken an Hambach fast vollständig aus. Offizielle Feiern finden nur alle 25 Jahre statt, anstatt zum Beispiel eines alljährlichen Staatsaktes. Und diesmal muß Pensionär Richard von Weizsäcker einspringen, weil Bundespräsident Köhler Besseres zu tun hat: Er weilt in Asien. Ein handfester Skandal?

Höbelt: Ihr Ärger zeigt, daß Sie offenbar auch ein überzeugter Republikaner sind. Ich kann Sie aber beruhigen, ich glaube, unter dem Desinteresse an Geschichte und republikanisch-nationalstaatlicher Tradition leidet nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, das finden sie ebenso in unseren Nachbarländern. Die volkstümliche Geschichtsvermittlung, das republikanische Einpauken von Daten und Ereignissen inklusive der Anekdoten und des romantischen Geschichtskitsches, der mnemotechnisch so hervorragende Ergebnisse liefert, gibt es in unseren modernen Gesellschaften kaum noch.

Hitler allerdings ist sehr präsent.

Höbelt: Zeitgeschichte ist natürlich im Vorteil, nicht nur, weil sie uns politisch näherliegt, sondern vor allem auch aus technischen Gründen: Von ihr gibt es die Fotografien und Filmbilder, die unser mediales Zeitalter fordert.

Spielt nicht auch die heute populäre Vorstellung - bzw. das vielleicht unterschwellige Interesse, die Dinge so darzustellen - eine Rolle, die Demokratie beginne in Deutschland erst mit der Besatzungsherrschaft der Siegermächte ab 1945 bzw. mit den Achtundsechzigern?

Höbelt: Das mag sein, aber ich tendiere dazu, die Ursache dafür weniger in politischen Absichten zu sehen als im Phlegma und Desinteresse von Leuten, die kaum mehr wirklich lesen - und in einer heute verbreiteten Scheu vor der Geschichte.

Scheu vor der Geschichte?

Höbelt: Geschichte ist heute nicht mehr das, was sie noch etwa bis in die siebziger Jahre war, als es noch einmal eine Renaissance der klassischen Geschichtsdarstellung gab, denken Sie an Golo Mann, Joachim Fest etc., und auch die Achtundsechziger beriefen sich noch ausgesprochen gern auf historische Traditionen. Heute hat man dagegen regelrecht Angst vor der Geschichte: Besser nicht darauf rekurrieren! Vielleicht stellt sich ja heraus, daß der Barrikadenkämpfer, auf den man sich beruft, irgendwann einmal etwas gesagt hat, was heute als antisemitisch interpretiert werden könnte oder was man heute als chauvinistisch bewerten müßte! Und so blickt man sicherheitshalber lieber "kritisch" auf die Historie - als ein neuer Mensch, der die Lehren gezogen hat und unserer Geschichte moralisch überlegen ist.

Dem widerspricht aber die Omnipräsenz des Nationalsozialismus. An diesem Fixpunkt richten sich erhebliche Weltansichten der Gegenwart aus.

Höbelt: Das entspringt wohl weniger dem Interesse an Geschichte und dem Bewußtsein für historische Traditionen, sondern mehr einem vorauseilenden Gehorsam, weil kurioserweise jeder vom anderen immer noch glaubt, daß er darauf Wert legt - obwohl diese Attitüde inzwischen fast allen gleichermaßen auf die Nerven geht. An dieser Geschichtsrezeption ist - anders als an der vor noch dreißig Jahren - nichts Freudiges und Lustvolles mehr. Jede Gegenwart behauptet eben von sich, sie sei besser als die Vergangenheit. Es ist ein Irrtum zu glauben, das sei nur auf Deutschland beschränkt. Nach heutigem Verständnis waren die Menschen früherer Epochen allesamt Rassisten, Sexisten und Antidemokraten - Umweltsünder ohnehin. Zwar hat man in Deutschland nach dem Krieg zunächst voll Bewunderung auf das angelsächsische 19. Jahrhundert geschaut, es als gelungene Geschichte, als liberales Vorbild betrachtet und sich gesagt: "Wenn uns das auch gelungen wäre, dann wäre alles gutgegangen!" Aber schauen Sie heute doch mal in die angelsächsischen Länder! Dort gilt das 19. Jahrhundert ebenfalls als gänzlich delegitimiert: alles Sklavenhalter, von Washington und Jefferson abwärts, Kapitalisten, Militaristen, Kolonialisten, Patriarchen und Unterdrücker gesellschaftlicher Minderheiten!

Nach dem Ende der schwarzweißroten Epoche von 1871 bis 1945 hätte man erwarten können, daß die deutsche Republik wieder die schwarzrotgoldenen Traditionen in den Mittelpunkt der geschichtlichen Erinnerung stellt. Statt dessen steht dort ungebrochen Hitler - nur unter umgekehrten Vorzeichen.

Höbelt: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik sang man schon das Hohelied der badischen und württembergischen Demokraten. Das Problem ist aber, daß bald die Berufung auf die Demokratie nicht mehr ausreichte. Die Achtundsechziger hatten zunächst die Vorstellung, man müsse nur angebliche autoritäre Hemmnisse in der Gesellschaft abbauen und sie mit Demokratie quasi durchfluten. Doch stellte man fest, daß trotz des erfolgreichen Kulturkampfs sich der Erfolg in der gewünschten Form nicht einstellen wollte: Die Leute waren gar nicht so "fortschrittlich". Nein, die Leute haben Helmut Kohl gewählt! Sie wählen Jörg Haider, Silvio Berlusconi oder George Bush - lauter Leute, die die Linke nicht mag. Also stellte sich ein Wandel in der Bewertung von Demokratie ein: Wenn heute eine solche linke Haßfigur das demokratische Procedere, die Wahl, gewinnt, hat das für den Linken nur noch formale Legitimität. Insgeheim denkt man: Hitler hätte vielleicht auch die Wahl gewonnen - auf Demokratie kommt es also nicht an.

Sie wollen sagen, an republikanischen Traditionen besteht auch deshalb wenig Interesse, weil trotz gegenteiliger Beteuerungen die Demokratie beim Establishment nicht hoch im Kurs steht?

Höbelt: Ja. Sehen Sie, wenn jemand in den Sechzigern behauptet hat: "Sind wir ehrlich, Hitler hätte, wäre zu bestimmten Zeiten ordentlich gewählt worden, durchaus die Mehrheit im Volk gehabt", dann galt er damals als Neonazi. Denn wenn das so gewesen wäre, wäre Hitler ja gerechtfertigt. Heute ist man einen Schritt "weiter" und sagt: "Ja! Genauso ist es! Und das zeigt nur, wie böse und nationalistisch das Volk war, und daß man es erziehen muß!" Obwohl bei uns jeder zur Rechtfertigung seiner Politik das Wort "demokratisch" auf den Lippen trägt, haben Manifestationen der Volkssouveränität bei uns keinen hohen Stellenwert mehr. Sie gelten allenfalls als Resultat ungenügender oder falscher Meinungsmache. Man hat das Volk in der Bundesrepublik Deutschland ja auch nicht nach der EU-Osterweiterung, der Einführung des Euro, der Zuwanderung oder der EU-Verfassung gefragt. Deshalb ließe sich die EU meines Erachtens durchaus als der "Endsieg über die Volkssouveränität" feiern.

Der "Sieger der Geschichte" ist also nicht Hambach und nicht Hitler, sondern Metternich?

Höbelt: So ausgedrückt, klingt das vielleicht zu positiv. Oft hat man den Eindruck, heute ginge es politisch korrekt darum, Nation und Demokratie voneinander zu trennen - was für die Hambacher übrigens untrennbar zusammengehörte. Ich glaube, das ist ein Irrtum, im Grunde will das Establishment beides nicht trennen - sondern überwinden. Demokratie ist doch nur noch eine Legitimationsschablone, so wie die Nationalstaaten nur noch eine Ordnungsschablone sind. Gerade weil Nation und Demokratie zusammengehören, schreiten wir über beide hinweg: Wir bilden Strukturen, die sich auf Demokratie berufen, wie sich ja schließlich auch das Zentralkomitee der KPdSU darauf berief. Auch dort wurde von Demokratie geredet, und irgendwann wurde da auch gewählt, aber Wahlen konnten nichts wirklich ändern. Und wenn Sie sich das Ideal der EU anschauen, dann ist das ein Zustand, wo Wahlen nichts mehr ändern, den vorgegebenen Kurs nicht mehr korrigieren können. Da ist nicht viel Unterschied zu Metternichs Ideal, der sich ja auch gern als Kutscher Europas bezeichnen ließ. Oder ein Unterschied vielleicht doch: Er war in dieser Beziehung doch noch ein wenig ehrlicher.

Also brauchen wir heute dringend ein neues Hambacher Fest?

Höbelt: Damit das Fernsehen was zu senden hat? Muß nicht sein. Genützt hat es ja auch damals nichts. Wenn Sie wirklich eine vernünftige, einigermaßen verläßlich konservative Regierung in Deutschland haben wollen, wäre es viel einfacher - und "europäischer" -, mit der Illusion der Volkssouveränität ganz aufzuhören und das Land turnusweise vom Vatikan, Liechtenstein und einem der Reformstaaten, sagen wir zum Beispiel Estland, mitverwalten zu lassen.

 

Prof. Dr. Lothar Höbelt: Der freiheitlich-konservative Historiker ist außerordentlicher Professor für neuere Geschichte an der Universität Wien. Besonders hat er sich unter anderem der Geschichte der politischen Parteien und Bewegungen im 19. Jahrhundert gewidmet. Geboren wurde er 1956 in der österreichischen Hauptstadt. Wichtigste Veröffentlichungen: "1848, Österreich und die deutsche Revolution" (Amalthea, 1998), "Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich" (Amalthea, 2001), "Kornblume und Kaiseradler" (Oldenburg, 1993)

 

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