© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

Angst vor dem Volk
Der Traum von einer freien deutschen Republik: Das nächste Hambach kommt bestimmt
Michael Paulwitz

So lustvoll-inbrünstig das offizielle Deutschland sich im steten Gedenken an die Schandflecke unserer Geschichte gibt, so hölzern-verklemmt kommt es daher, wenn es einmal positive Traditionen zu feiern gäbe. Der 175. Jahrestag des Hambacher Festes wird da keine Ausnahme sein. Trotz Mauerfall und Wiedervereinigung tut sich die deutsche Demokratie nach wie vor schwer damit, das republikanische Erbe der nationalen Einheits- und Freiheitsbewegung des neunzehnten Jahrhunderts als zentrale Traditions- und Legitimationslinie zu begreifen. Vielleicht, weil unsere geistige und politische Elite in mancherlei Hinsicht den Metternichs von damals nähersteht als den seinerzeit schon mißtrauisch beäugten Patrioten im schwarzrotgoldenen Fahnenschmuck.

Symptome solch geistiger Verwandtschaft lassen sich unschwer ausmachen. Der "freieste Staat, der je auf deutschem Boden bestanden" habe, hegt allen Bekenntnissen zu Zivilcourage und offener Gesellschaft zum Trotze noch immer ein abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber dem unberechenbaren Volk. Zwar gelten Toleranz und Meinungsfreiheit inzwischen als Grundfesten der Gesellschaft; doch statt diese Prinzipien vorbehaltlos selbst zu praktizieren und gewähren zu lassen, erliegt die politische Klasse nur zu oft der obrigkeitlichen Versuchung, ihre Grenzen und Inhalte nach Gutdünken dekretieren zu wollen. Und schon findet die Freiheit ihre Schranken nicht mehr in der Freiheit des anderen, sondern in Antidiskriminierungsgesetzen und Strafbestimmungen gegen unerwünschte Ansichten.

Bis heute fehlt der deutschen Demokratie zudem ein plebiszitäres Korrektiv, um die direkte Kontrolle der Regierenden durch den Souverän, das Volk, zu stärken. So sinnvoll die repräsentative Demokratie für das politische Alltagsgeschäft sein mag, so fragwürdig wird sie, wenn Rechte und Wesen des Volkssouveräns selbst betroffen sind - etwa wenn zentrale Souveränitätsrechte wie die Währungshoheit aufgegeben werden oder über ein neues Staatsbürgerschaftsrecht gar der Souverän selbst verändert wird, ohne ihn vorher zu fragen.

Wer die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln bricht und etwa unter Berufung auf den Verfassungsauftrag von seinen politischen Repräsentanten verlangt, das nationale Interesse und den Nutzen des eigenen Volkes zur Richtschnur ihres Handelns zu machen, gerät unversehens mit der Staatsmacht aneinander. Was dem historischen Metternich die "Demagogen" waren, die es zu verfolgen galt, sind seinen heutigen Adepten die "Populisten" und willkürlich definierten "Verfassungsfeinde", zu deren Diffamierung und Bekämpfung diesmal keine Neuauflage der Karlsbader Beschlüsse, sondern der mißbrauchte "Verfassungsschutz" herhalten muß. Zwar gibt es heute, anders als vor 175 Jahren, einen Rechtsweg, um sich dagegen zu wehren; doch um diesen erfolgreich zu beschreiten, bedarf es einer Standhaftigkeit, die auch im Vormärz nicht jedermanns Sache war.

Gewiß, eine Zensur findet nicht statt; wohl aber eine gesellschaftlich formierte, bewußte oder unbewußte Selbstzensur in der Schweigespirale. Anstelle des Kerkers droht bei hartnäckigen Verstößen das soziale Abseits. Der gesellschaftliche Konsens bei der öffentlichen Ächtung und Ausgrenzung politisch unkorrekter Geister, vom Berufsverbot bis zur völligen Vernichtung der sozialen Persönlichkeit, funktioniert bisweilen mit einer Perfektion und Einmütigkeit, die sich die Duodez-Despoten der Vormärzzeit von ihren Untertanen nicht im entferntesten zu erhoffen gewagt hätten. Daß heute wiederum, wie zu Metternichs Zeiten, Burschenschafter ins Visier genommen werden und Berufsverbote zu fürchten haben, ist eine bittere historische Ironie.

Selbst die Europäische Union ist in gewissem Sinne ein Spiegelbild des europäischen Mächtekonzerts der Restauration. Das Metternichsche Staatensystem beruhte auf Marginalisierung, Neutralisierung, wenn nötig Unterdrückung nationaler Bestrebungen, die das mühsam austarierte Gleichgewicht der Mächte in Gefahr zu bringen drohten. Den Eurokraten von heute wiederum sind die Partikularinteressen der Nationalstaaten ein lästiges Hindernis bei der politischen Integration. Keine vier Wochen vor dem Hambach-Jubiläum verlangte EU-Kommissionspräsident Barroso von "Europas politischen Führern" mehr "Mut, nationalen Populismen zu widerstehen". Nur die Bundeskanzlerin nahm er ausdrücklich von seiner Kritik am mangelnden Willen der EU-Staatenlenker aus, sich dem "wachsenden nationalen Egoismus" entgegenzustellen.

Sind wir also noch immer ein Volk von Philistern und Untertanen, daß wir die eigene Entmündigung klaglos hinnehmen? Die Deutschen hatten ihre freiheitlichen Sternstunden; daß der Traum von der einigen, freien und unabhängigen deutschen Republik immer wieder an der geopolitischen Realität scheiterte, ist keine Schande. Doch scheint es, daß wir die Tragweite des Epochenwechsels von 1989 noch immer nicht begriffen haben.

So mag der deutsche Nationalstaat äußerlich zwar vollendet sein; innerlich fehlt der Bundesrepublik Deutschland noch immer eine Verfaßtheit, die das republikanische Erbe der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung vollendet und ins 21. Jahrhundert weiterführt. Eine gute, republikanische, demokratische Regierung erkennt man daran, daß sie nicht selbst alles besser weiß und sich anmaßt, als Vormund des Bürgers sogar dessen Privatleben von oben herab zu regeln - von der Verwendung des fürsorglich eingesammelten Einkommens der Bürger über die Kindererziehung bis zum Fitneßprogramm.

In einer demokratischen Republik wissen die Mandatsträger vielmehr, daß sie Diener des Volkes sind, des Souveräns, dem das letzte Wort zusteht. Die Institutionen müssen so austariert sein, daß der Wille und das nationale Interesse des Staatsvolkes im politischen Handeln unmittelbar zum Ausdruck kommt und nicht bloß über die Interpretation demoskopisch gefilterter Auszüge.

Niemand kann den Bürgern die Pflicht abnehmen, sich ihre Mitspracherechte zu erkämpfen und so die einige und freie deutsche Republik zu vollenden. Huldvoll gewährte Bürgerfeste und festaktliche Pflichtübungen sind dafür ebensowenig ein Ersatz wie von oben angesetzte Kundgebungen nach Art des "Aufstands der Anständigen"; Staatsdemonstrationen gehören ohnedies eher ins Repertoire von gleichgeschalteten Diktaturen.

Gut so, wenn das Volk zu Zeiten seinen Willen kundtut, ohne vorher die Mächtigen um Erlaubnis zu fragen. Das nächste Hambach kommt bestimmt.

Foto: Historischer Zug zum Hambacher Schloß (Aquarell Max von Boehm), zeitgenössische junge Frau mit Deutschlandfahne: Gut so, wenn das Volk seinen Willen kundtut


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