© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/07 18. Mai 2007

"Ohne Tradition geht es nicht"
Der Philosoph Odo Marquard kritisiert das "Ausrangieren der Vergangenheit", sieht aber keine Krise. Eine Kontroverse
Moritz Schwarz

Herr Professor Marquard, Sie sprechen von unserer Gegenwart als einem "Zeitalter des Ausrangierens". Zwei Beispiele aus jüngster Zeit: Gerade berichtete diese Zeitung ausführlich über den Fall des Marineehrenmals in Laboe (JF 18/07), das einer historischen Umwidmung zum Opfer fällt. Und vergangene Woche stellte die CDU das Konzept für ihr neues Grundsatzprogramm vor, das konservative Werte, was etwa die Familie betrifft, durch progressive ersetzt. Ist der Rekurs der Konservativen auf die Vergangenheit per se überwindungsbedürftig?

Marquard: Nein, aber wissen Sie, ich muß vielleicht vorausschicken, daß ich als gemäßigter Konservativer im Zweifel für das Pragmatische statt für die reine Lehre bin: liberal-konservativ, das trifft es vielleicht am besten.

Sie stimmen aber zu, der Mensch braucht Vergangenheit?

Marquard: Sogar in reichem Maße. Denn der Mensch ist von Hause aus seine Geschichte - dazu gehört die Erinnerung an seine Vergangenheit ebenso wie seine Hoffnung auf die Zukunft.

Das Leben des modernen Menschen hat viele Merkmale von Vergangenheitsvergessenheit, es ist auf den Augenblick fixiert, vom Ausblick auf die Zukunft determiniert. Da ist wenig Platz für Traditionen.

Marquard: Wer meint, er brauche keine Tradition, der irrt. Tradition ist nötig: Es geht nicht ohne sie. Der Mensch ist grundsätzlich traditionspflichtig, ohne Vergangenheit ist ihm keine Zukunft möglich.

Warum?

Marquard: Die Spanne des menschlichen Lebens ist kurz. Worauf es unter anderem ankommt, ist, nicht alles neu machen zu müssen. Das ist eine Erfahrung, die für den Menschen prägend ist. Es gibt eine Notwendigkeit, Traditionen zu haben, mit deren Vernünftigkeit gerechnet werden kann. Traditionen allerdings nicht ohne Widerruf, sondern mit der Möglichkeit, die Dinge beim nächsten Zugriff auch zu verbessern.

Sie betonten, wie wichtig das Konservative für die Zukunftsfähigkeit ist. In unserer Gesellschaft ist "konservativ" allerdings verpönt, als positiv gilt fast allein das Progressive.

Marquard: Da lebt unsere Gesellschaft in einem Irrtum. Die moderne Welt ist zunächst durch das Element des Fortschritts gekennzeichnet. Dieses bedingt aber notwendigerweise eine Kompensation: Es gehört zur Geschichtlichkeit des Menschen, gleichzeitig Zukunftsfähigkeit als auch Herkunftsfähigkeit sicherzustellen.

Man muß wissen, daß "Kompensation" in Ihrem Denken eine zentrale Rolle spielt. Dabei meinen Sie allerdings nicht das, was man gemeinhin darunter versteht: Kompensieren müsse nur, wer Defekte oder Defizite hat.

Marquard: Nein, das wäre in der Tat ein Mißverständnis. Bei der Kompensation geht es um Ausgleich. Alles, was uns Raum zum Denken und zur Kultur gibt, Kunst, Literatur, die Welt der Museen etc., ermöglicht uns geistige Zukunft, ist aber zugleich ein Phänomen der Kompensation.

Und diese wichtige Leistung der Kompensation ist dem Menschen möglich durch die Gabe des Erinnerns und Gedenkens?

Marquard: Die Idee der Moderne ist, die Zukunft zu optimieren. In dem Augenblick, in dem der Mensch dadurch ein artifizielles Lebewesen der Zukunft wird, stellen sich aufgrund seiner Natur und der Natur menschlicher Gesellschaft immer auch Probleme ein. Denn der Mensch, der konzentriert auf die Zukunft zum Sachlichkeitswesen wird, klammert das Menschliche zwangläufig zunehmend aus. Das heißt, in einem "Zeitalter des Ausrangierens", in dem die Zukunft in einer extremen Form nur noch als Zukunft gedacht wird, muß das Menschliche festgehalten werden, und zwar in einer Form, die nicht nur Zukunft ermöglicht, sondern auch Herkunft bewahrt. Das nenne ich die "Kompensationspflichtigkeit der Moderne": Moderne Welt ist Fortschritt plus Kompensation der Menschlichkeit.

Man stelle sich einen Menschen ohne Vergangenheit vor: Also kein Sieger über die Geschichte, sondern ein moderner Peter Schlemihl?

Marquard: So ist es, denn er würde unter einem Mangel an Lebensfähigkeit leiden. Schon beim ersten Schritt in die Zukunft würde er außer Tritt geraten, weil ihm die Anknüpfungspunkte fehlen. Aber andererseits muß ich auch noch einmal betonen, daß das Mängelwesen Mensch nicht nur vergangenheitsbedürftig und traditionspflichtig ist, sondern auch zukunftsfähig. Und die Frage nach einer Zukunft, die besser ist als die Gegenwart, würde ich mir nicht verbieten lassen.

Im Namen einer angeblich besseren Zukunft werden in Deutschland immer mehr Denkmäler, die an die eigene Geschichte erinnern, abgebaut oder kosmopolitisch umgewidmet.

Marquard: Wenn das stimmt, dann fiele mir da eher eines ein, daß bislang noch gar nicht gebaut wird: das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, das übrigens meine Unterstützung findet - und zwar gerade wegen meiner guten Beziehungen zu Polen!

Denkmäler wie etwa jüngst das 1925 geplante, 1936 eingeweihte deutsche Marineehrenmal in Laboe waren einst "spezifisch". Im Laufe der Zeit ging dieses gedenktypische Merkmal immer mehr verloren: Laboe ist heute allen Menschen, an allen Orten, zu allen Zeiten gewidmet, die je auf See umgekommen sind.

Marquard: Dieses Phänomen halte ich letztlich für vernünftig. Ich neige dazu, auch wenn das für einen Skeptiker wie mich ungewöhnlich klingen mag, das Augenmerk weniger auf die Probleme als auf die Erfolge zu richten.

Als da wären?

Marquard: Zum Beispiel die doch ganz offensichtlich hohe Zustimmungsfähigkeit unseres politisch-weltanschaulichen Systems, das sich etwa in einem recht breiten Konsens über die gemeinsamen Symbole unseres kollektiven Gedächtnisses zeigt. Nehmen Sie, um ein anderes Beispiel zu wählen, etwa unsere Nationalfahne. Denken Sie nur an den zermürbenden Flaggenstreit in der Weimarer Republik, der ja korrespondierte mit der vergleichsweise hohen politischen Instabilität des Staates.

Welche Rolle spielt denn Erinnern und Gedenken für die Gemeinschaf?

Marquard: Sie sind dafür durchaus konstitutiv, denn durch das Kommunikative des Erinnern und Gedenken entsteht erst die Fähigkeit zur Gemeinschaft. Außerdem können Menschen gar nicht völlig autonom leben.

Was bedeutet dann die zunehmende Kosmopolitisierung unserer gemeinschaftlichen Mythen für die Zukunft von uns Deutschen?

Marquard: Einerseits ist die kosmopolitisierende Globalisierung eben eine unvermeidliche geschichtliche Entwicklung, andererseits spielen auch und gerade in der globalisierten Welt Lokalitäten eine wichtige Rolle. Im großen und ganzen betrachte ich die Gedenkfähigkeit unserer Gesellschaft als intakt und auch für die nächste Zukunft nicht existentiell in Gefahr.

Gibt es in Deutschland nicht den unter den Eliten weitverbreiteten, mit großer Energie immer weiter vorangetriebenen Traum, der nationalen Erinnerung, etwa nach Europa, zu entfliehen?

Marquard: Es geht im Leben eben nicht ohne Hilfskonstruktionen. Das sind die Probleme, mit denen sich unsere Mängelexistenz herumzuschlagen hat. Auch Fluchtkonstruktionen gehören dazu. Die gab es genauso im "nationalen" 19. Jahrhundert, als man von Amerika, Afrika oder Utopia träumte. So etwas ist wohl unvermeidlich.

Ist denkbar, daß dieser Zeitgeist sein Ziel erreicht und Deutschland zum ersten Land "ohne eigene Geschichte" wird?

Marquard: Ich sehe nicht, daß es zu einem Verschwinden der kollektiven Erinnerung der Deutschen in nächster Zeit kommen könnte. Noch einmal: Wir haben es nie nur mit einem einzigen geschichtswirksamen Phänomen zu tun. Es gibt also nicht nur die Globalisierung, sondern gleichzeitig immer auch das daraus entstehende Phänomen der Kompensation: also Phänomene einer kompensierten Globalisierung! Und das ist für mich - trotz aller negativer Erscheinungen - Anlaß, insgesamt für die Zukunft zuversichtlich zu sein. Im übrigen: Zu meiner Skepsis gehört auch, Affirmationsverbote in Frage zu stellen. Zu ihr gehört auch die Skepsis gegen das große Krisengerede.

Ist die Gefahr der Krise nicht evident? Gibt es neben dem Problem der Globalisierung nicht auch noch das Problem des geschichtlichen Bruchs durch den Zweiten Weltkrieg und eventueller psychopathologischer Reaktionen darauf?

Marquard: Letzteres ist nicht von der Hand zu weisen.

Stichwort: "Auschwitz als Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland". Wie ist das zu deuten?

Marquard: Ich würde diese Formulierung Joschka Fischers eher nicht unterschreiben, schon weil ich etwas gegen Monomythen haben. Aber nehmen Sie doch das Holocaust-Mahnmal in Berlin: Trotz ursprünglicher Bedenken meinerseits - die ich mit Reinhart Koselleck teilte - finde ich es heute in der Umsetzung gelungen.

Spätestens der jüngste Fall Oettinger hat erneut gezeigt, daß wir ein massives, hausgemachtes Problem mit unserer kollektiven Erinnerung haben. Wir vergessen gern, daß das regelmäßig passiert: Denken Sie an den Fall Hohmann, Walser, die Wehrmachtsausstellung, die Goldhagen-Debatte, Jenninger, den Historikerstreit, etc. etc.

Marquard: Solche sporadisch auftretenden Verhärtungen und Unsicherheiten schließen die Tatsache nicht aus, daß wir im großen und ganzen mit unserer Vergangenheit zurechtkommen. Leben bedeutet eben auch Probleme zu ertragen. Das ist normal. Ich habe darüber reflektiert, ob man den Historikerstreit nicht einfach hätte bleiben lassen sollen, wo er die Wiederkehr der Kategorie des Totalitarismus abwehrte. Daß sich die Bundesrepublik Deutschland nunmehr seit fast sechzig Jahre als gegen jede echte Revolutionen resistent erweist, zeigt, daß unser System stabil ist. Das sollten wir uns auch nicht ausreden lassen.

Heute nehmen wir ganz überwiegend passiv am kollektiven Erinnern und gemeinschaftlichen Gedenken teil: als Konsumenten der Massenmedien. Verlernen wir das Metaphysische des Gedenkens?

Marquard: Ihre Frage impliziert, daß das Gedenken zu früherer Zeit "heil" gewesen ist. In einer modernen Welt entstehen eben Großinstitutionen - Sie nannten die Massenmedien, ich nenne zum Beispiel das Museums- oder das Archivwesen -, die die Traditionsfähigkeit unserer Gesellschaft geltend machen. Deshalb würde ich dieses Phänomen nicht nur negativ beschreiben, sondern als Wesensmerkmal der modernen Welt verstehen, das geschichtlich evoziert ist.

Sehen Sie denn keinen Unterschied zwischen Gedenken und bloßem Erinnern?

Marquard: Nein, ich würde keinen großen Unterschied machen. Das, worauf Sie hinauswollen - früher gab es das Gedenken, heute nur noch das Erinnern -, sehe ich so nicht. Wir haben auch eine zunehmende Erinnerungsfähigkeit, etwa in Gestalt der Geisteswissenschaften, die es uns erlaubt, uns in der modernen Welt einzurichten.

Bis zur Französischen Revolution herrschte ein metaphysisches - religiöses und dynastisches - Gedenken vor. Mit der Revolution und dem Republikanismus kam eine neue, gegenwärtige, eine "vernünftige" Form des Gedenkens auf, das auf die Etablierung der neuen Gemeinschaft - Einheitsstaat, Republik, Nation - abstellte. Gedenken hat also in der Moderne immer auch eine ideologische - sprich politisch erziehende - Funktion. Auch in der Bundesrepublik?

Marquard: Solche Tendenzen gibt es natürlich auch bei uns, aber all das läßt mich dennoch nicht am meinem politischen Optimismus zweifeln.

Können Sie dennoch ein negatives Beispiel nennen?

Marquard: Ich bin fern davon, nun hier die mittlerweile populäre Achtundsechziger-Schelte zu betreiben, aber diese Bewegung zeigte sicherlich Formen von Ideologie.

Ganz abgesehen davon, daß den Achtundsechzigern bekanntlich der Marsch durch die Institutionen gelungen ist - unseren Republikanismus an sich sehen Sie frei von Ideologie?

Marquard: Nein, aber die Unterstellung, unsere freiheitliche Gesellschaft sei im Grunde nichts als die Verbrämung einer ideologischen Herrschaft, halte ich für falsch.

Muß nicht gerade die Verteidiger der Freiheit die Frage nach der Bedrohung durch Ideologie stets präventiv umtreiben?

Marquard: Ich bin zwar selbst ein Skeptiker, aber ich finde, man kann auch zu weit gehen: Wer immer die Frage nach dem Ausnahmezustand - und vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet - stellt, der ist für die Realität vermutlich allzu absurd philosophisch.

 

Prof. Dr. Odo Marquard: Der Philosoph zählt zusammen mit Hermann Lübbe zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten "Schule von Münster" - auch "Ritter-Schule" - um den 1974 verstorbenen Philosophiehistoriker Joachim Ritter, die als "liberalkonservatives Gegenlager zur Frankfurter Schule" gilt. Der Berliner Politikwissenschaftler Jens Hacke rechnet ihn in einer gerade erschienenen profunden Studie zu den "Philosophen der Bürgerlichkeit", denen er attestiert, die Bundesrepublik nachhaltiger geprägt zu haben als etwa Adorno und Horkheimer. Marquard war von 1984 bis 1987 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, heute Deutsche Gesellschaft für Philosophie. Geboren wurde er 1928 in Stolp/Hinterpommern.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Abschied vom Prinzipiellen" (Reclam, 1981), "Apologie des Zufälligen" (Reclam, 1986), "Zukunft braucht Herkunft" (Reclam, 2003)

 

weitere Interview-Partner der JF


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen