© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Alle Poesie stirbt eines gewaltsamen Todes
Entzauberung eines bösen Märchenspiels: Debussys "Pelléas et Mélisande" in der Staatsoper Stuttgart ist zu einem Fiasko geraten
Axel Michael Sallowsky

Gab es in dieser Spielzeit bei fast allen Premieren in der Stuttgarter Staatsoper oftmals minutenlangen Applaus (insbesondere für hervorragende Solisten-und Ensemble-Leistungen), so ertönten nach dem Schlußakkord von Debussys "Pélleas et Mélisande" neben verhaltenem und kurzem Beifall auch überraschend wieder einmal heftige Buh-Rufe.

Diese galten vor allem der Regie. Und das zu Recht. Denn was sich das Trio Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie) sowie Kazuko Watanabe (Bühnenbild und Kostüme) konzeptionell da ausgedacht und auf die Bühne gebracht hatten, das spottet in der Tat jeder seriösen und ernsthaften Regie-Beschreibung und ist letztlich nichts anderes als ein heimtückischer Mordanschlag auf die ehrwürdige Dame namens Oper.

Wenn sich "modernes Regietheater" (ein jeder definiert dieses anders) einzig durch Schändung und durch die Zertrümmerung eines Werkes provokativ in Szene zu setzen und zu profilieren weiß, dann wäre es für ein kritisches Publikum allerhöchste Zeit, gegen solche geistigen Verbrechen endlich einmal auf die Barrikaden zu gehen; sonst dürfen die Theaterzertrümmerer ungestraft und ungebremst weiter wüten - unter dem Deckmantel der "künstlerischen Freiheit".

Natürlich hat Debussys "lyrisches Drama" (das Libretto stammt von Maurice Maeterlinck) seine Tücken. Es ist auf der Bühne eigentlich überhaupt nicht spielbar. Es schnörkellos und einfach zu erzählen, selbst das fällt schwer, da sich der rote Faden der Handlung in einem Labyrinth aus abstrusen und absurden Details verliert. Dieses böse Märchen mit seinem konfusen Inhalt wäre höchstens filmisch darstellbar. Das ist auch der Grund, warum dieses Werk nur selten auf einer Opernbühne zu sehen ist.

Die Stuttgarter Staatsoper nahm sich dieses lyrischen Dramas nun also an, wohlwissend um dessen Unaufführbarkeit. Ist das nun künstlerischer Wagemut, oder ist es schlicht Selbstüberschätzung? Fest steht, daß aus einer abenteuerlichen Kombination von Fantasielosigkeit, Pseudo-Intellektualismus und Profilneurose eine höchst befremdliche Inszenierung entstanden ist, in der so gut wie nichts stimmt. Kein inszeniertes Wort, kein Ton, keine Geste stimmen mit dem Ur-Text des Librettos überein.

Es wäre müßig, im Einzelnen aufzuzählen, was da mißriet. Alles Poetische, das Mystische, auch das Spirituelle dieses bösen Märchens ohne Happy End (in dem sich die Grundmuster vieler Märchen widerspiegeln, wie zum Beispiel "Der Froschkönig" oder "Rapunzel") stirbt in dieser Inszenierung eines gewaltsamen Todes.

Die Protagonisten agieren (mit wenigen Ausnahmen und auch nur, weil die Stuttgarter Staatsoper auch dieses Mal ein vorzügliches Ensemble aufzubieten hat) völlig aneinander vorbei. Von Märchenlandschaften, Burgen, Wäldern, Brunnen und Meer (wie im Libretto und im Text vorgesehen) keine Spur.

Das allein wäre jedoch kein Regie-Manko, denn eine Transformation in andere Ort- und Zeitebenen ist durchaus erlaubt. Daß die Regie das Spiel in ein eiskaltes Heute ansiedelt, die "Märchensprache" von gestern jedoch beibehält, das läßt die Stuttgarter "Pélleas et Mélisande"-Inszenierung bisweilen zu einer Lachnummer verkommen, in der die Maeterlinck-Figuren hilf-und geistlos umherirren wie in einem Grusel- und Spiegelkabinett, stets sowohl auf der Flucht vor wie auf der Suche nach sich selber (leise Unmutsrufe und verhaltenes Gelächter im nicht ganz gefüllten Saal waren unüberhörbar). Es ist schon erstaunlich, was Sänger auf deutschen Opernbühnen so alles über sich ergehen lassen müssen (und auch noch hinnehmen).

Von dieser Bereitschaft und dem künstlerischen Engagement guter Solisten profitieren letztlich und immer wieder jene Regisseure, denen ihr oftmals krankes Ego weitaus wichtiger ist als Werktreue und Verantwortung vor den Künsten der Interpreten.

Und welche Rolle spielt hier das Publikum? Ein bekannter deutscher Opern- und Theater-Regisseur sagte dem Rezensenten einmal zu ebendiesem Thema: "Das Publikum interessiert mich überhaupt nicht. Wenn es meine Inszenierungen nicht mag, dann soll es doch zu Hause bleiben!" Denkt man in Stuttgart etwa auch so, zumindest das Regie- und Bühnenbild-Trio dieser Aufführung?

Bravos galten dem Dirigenten Tetsuro Ban (der das Stuttgarter Staatsorchester souverän in Debussys lyrisch-impressionistisches Fahrwasser steuerte) sowie vor allem Alla Kravchuk als Mélisande (eine ausdrucksvolle Stimme, dazu eine bemerkenswerte Darsteller-Persönlichkeit), Oliver Zwarg als Golaud (sängerisch und schauspielerisch gleichermaßen stark) sowie Liang Li als Arkel, Helene Schneidermann als Geneviéve und der bezaubernden Sunhae Im als Yniold.

Will Hartmann (Pélleas) zelebrierte - trotz einer plötzlichen Innenohrverletzung - allerhöchste Helden-Tenor-Kunst, der man eine große Karriere voraussagen kann.

Fazit: Musikalisch war's ein Genuß, die Regie hingegen nichts als Verdruß.

Die nächsten Aufführungen in der Stuttgarter Oper, Oberer Schloßgarten 6, finden statt am 11., 16. und 19. Mai sowie am 3., 8., 14. und 15. Juni. Telefon: 07 11 / 20 32-0

Foto: Debussy-Ensemble: Die Figuren irren hilf- und geistlos umher


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