© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Die Bevölkerung im Visier
Militäreinatz in Afghanistan und im Irak: Pro gefallenem US-Soldaten 17 bis 19 unschuldige zivile Opfer
Marc W. Herold

Die Zahlen rütteln auf. Von 2005 bis 2006 hat sich die Sterblichkeitsrate der Nato-Soldaten in Afghanistan von 2,8 auf 14 verfünffacht. Im Gegenzug hat ein Soldat der US-Besatzungstruppen in Afghanistan, bevor er durch Feindeinwirkung oder Unfall selber ums Leben kommt, an der Tötung von 16 bis 19 afghanischen Zivilisten mitgewirkt.

Die Zahlen aus dem Irak sind nicht direkt vergleichbar, da die gemeldeten Toten unter der Zivilbevölkerung nicht auf die Opfer von US-Militäreinsätzen beschränkt sind. Dort kommen auf einen gefallenen US-Soldaten 17 bis 19 zivile Opfer.

Allgemein läßt sich sagen, daß die Zivilbevölkerung die Hauptlast moderner Kriege trägt. Gino Strada, der als Kriegschirurg und Begründer der Hilfsorganisation Emergency Italia viele zeitgenössische Kriegsschauplätze aus eigener Anschauung kennt, schätzt, daß über 80 Prozent der Todesopfer in modernen Kriegen Zivilisten sind.

So sind seit Beginn der Invasion bis zum Dezember 2006 in Afghanistan 300 US-Soldaten gefallen. Im selben Zeitraum kamen laut Ermittlungen des Autors (http://pubpages.unh.edu/~mwherold) zwischen 4.845 und 5.678 Zivilisten bei Nato- oder US-Angriffen ums Leben. Im Vergleich dazu fielen im Irak zwischen März 2003 und Dezember 2006 2.979 US-Soldaten, während die Internetseite Iraq Body Count (www.iraqbodycount.org) im gleichen Zeitraum bis zu 57.368 getötete Zivilisten verzeichnet. Somit liegt das Verhältnis zwischen Todesopfern bei den US-Truppen einerseits und in der Zivilbevölkerung andererseits bei 16,2-18,9 (Afghanistan) bzw. 17,4-19,3 (Irak).

Hohe Sterblichkeitsrate bei den kanadischen Truppen

Diese Zahlen veranschaulichen auf dramatische Weise, daß in modernen amerikanischen Kriegen des 21. Jahrhunderts für jeden gefallenen Soldaten des Angreifers 18 Zivilisten ums Leben kommen. (Bezüglich des Taliban- oder irakischen Widerstands sind keine entsprechenden Zahlen verfügbar.) Aus verschiedenen Gründen handelt es sich selbst bei dieser Zahl um eine grobe Unterschätzung: Denn sie berücksichtigt nur diejenigen, die auf der Stelle umkamen, nicht aber später an den Folgen gestorbene Zivilisten; ebensowenig die große Dunkelziffer von zivilen Todesfällen, die nicht offiziell erfaßt werden; durch den Kontakt mit abgereichertem Uran verursachte Todesfälle etc.

Der Vergleich zwischen der relativen Sterblichkeitsrate für US-Besatzungssoldaten in Afghanistan und dem Irak erweist, daß die Zahlen in etwa übereinstimmen. Entgegen der landläufigen Wahrnehmung ist der Irak kein weitaus gefährlicherer Standort für US-Truppen als Afghanistan. Lediglich in der Anfangsphase des Afghanistan-Krieges verzeichneten die USA minimale Verluste, da sie mit Hilfe äußerst beweglicher Special Forces, der Schlagkraft ihrer Luftwaffe sowie gekaufter afghanischer Verbündeter eine neue Art von militärischem Einsatz anwandten.

An dieser Stelle lohnt ein historischer Rückblick: Seit 1865 ist der prozentuale Anteil der gefallenen Soldaten an den insgesamt am Krieg beteiligten Streitkräfte im Vergleich zu früheren Kriegen gesunken. Dieser Trend ergibt sich hauptsächlich durch die zunehmende Streuung der Streitkräfte über das Schlachtfeld gegenüber tödlicheren Waffen.

Im Ersten Weltkrieg kamen auf eintausend Soldaten jährlich 12,0 Gefallene, im Zweiten Weltkrieg waren es 9,0. Im Irak liegt der Anteil bei etwa 5,6. Weniger Verwundete sterben. Im Vietnamkrieg (1961-1973) und im Golfkrieg (1990-1991) lag der Prozentsatz der US-Soldaten, die an Verletzungen starben, bei 24 Prozent, im derzeitigen Konflikt in Afghanistan und dem Irak bei 10 Prozent.

Eine Studie im New England Journal of Medicine kommt zu dem Befund: "Trotz gestiegener Feuerkraft ist die Sterblichkeit gesunken. Im Zweiten Weltkrieg starben 30 Prozent der im Kampf verletzten Amerikaner. In Vietnam fiel der Anteil auf 24 Prozent. In Afghanistan und dem Irak starben etwa 10 Prozent der Verletzten. In diesem Krieg sind mindestens ebenso viele US-Soldaten im Kampf verletzt worden wie im Unabhängigkeitskrieg, im Krieg von 1812 oder in den ersten fünf Jahren des Vietnamkriegs, zwischen 1961 und 1965. Dies läßt sich nicht mehr als kleiner oder begrenzter Konflikt bezeichnen. Doch ein weitaus höherer Prozentsatz der Soldaten überlebt seine Verwundungen.

Obwohl für Soldaten die Sterblichkeitsrate im Laufe des 20. Jahrhunderts abgenommen hat, kamen in keinem früheren Jahrhundert insgesamt so viele Menschen gewaltsam ums Leben: "insgesamt starben im 20. Jahrhundert 167 bis 188 Millionen Menschen infolge organisierter Gewalt", konstatierte der britische Historiker Niall Ferguson in der Fachzeitschrift Foreign Affairs.

Im einzelnen weist der Vergleich zwischen den Kriegsschauplätzen im Irak und Afghanistan für die Jahre 2005 und 2006 einige interessante Ergebnisse auf. Auf den ersten Blick ist die Sterblichkeitsrate für US-Soldaten im Irak höher (2006 um ganze 20 Prozent). Weiterhin ist im Verlauf des untersuchten Zeitraums in beiden Ländern die Sterblichkeitsrate gefallen.

In Afghanistan kamen im Jahr 2005 auf 18.000 US-Soldaten 99 Gefallene, was einer Sterblichkeitsrate von 5,50 entspricht. 2006 fielen 98 von 22.000 US-Soldaten (23.000 vor der Übergabe an die Nato im Juni). Die Sterblichkeitsrate lag damit nur noch bei 4,45. Im Irak fielen 2005 von 140.000 dort stationierten Soldaten 846 (6,04). 2006 betrug die Truppenstärke 142.000 bei 799 Gefallenen (5,63).

Der Hauptgrund für das scheinbare Sinken der Sterblichkeitsrate in Afghanistan liegt darin, daß die USA andere Nato-Mitgliedstaaten, vor allem Kanada und Großbritannien, erfolgreich "überzeugen" konnten, den Großteil der Verantwortung im Süden des Landes zu übernehmen, wo die Sterblichkeitsrate weit höher liegt. Die Nato-Besatzungsstreitkräfte wurden von 2005 bis 2006 von 11.000 auf 18.500 aufgestockt. Die Zahl ihrer Gefallenen verdreifachte sich im selben Zeitraum von 31 auf 92.

Zählt man die Nato- und US-Gefallenen für beide Jahre zusammen und tut so, als hätten die US-Streitkräfte auch weiterhin den Großteil der Kampfeinsätze in Süd-Afghanistan geleistet, dann stiege die Sterblichkeitsquote pro eintausend Soldaten auf 7,2 (2005) bzw. 8,6 (2006).

Mit anderen Worten ist die Sterblichkeitsrate in Afghanistan 2006 im Vergleich zum Vorjahr erheblich gestiegen und liegt höher als im Irak. Die irakischen Zahlen hingegen zeigen für denselben Zeitraum eine Abnahme der nicht-amerikanischen Gefallenenzahlen von 51 auf 46. Die Sterblichkeitsrate der britischen Truppen in Afghanistan lag 2006 zwischen 6,0 und 9,5, die der kanadischen bei 14,4.

Afghanistan ist härter als der Irak

Sheila Bird von der britischen Royal Statistical Society hat errechnet, daß je eintausend Nato-Soldaten in Afghanistan (bei einer Truppenstärke von insgesamt 18.500) jährlich 14 fielen. Dies entspricht einer Sterblichkeitsrate von 14 gegenüber lediglich 2,8 im Jahr 2005. Laut dieser Studie haben die zunehmenden Angriffe Aufständischer die Zahl der Todesopfer der Isaf-Truppen auf durchschnittlich fünf pro Woche ansteigen lassen. Das sind mehr als doppelt so viele, wie George W. Bushs "Koalition der Willigen" bei den Kämpfen um die Kontrolle über den Irak 2003 verlor. Bird hebt hervor, daß der derzeitige Konflikt damit den Grad des sowjetischen Afghanistan-Feldzugs vor über zwanzig Jahren erreicht.

Aussagen amerikanischer und britischer Soldaten bestätigen, daß Afghanistan "härter" ist als der Irak. In Afghanistan waren die USA sehr erfolgreich bei dem Bemühen, die Hauptlast militärischer Opfer genau zu dem Zeitpunkt ihren Nato-Verbündeten zuzuschieben, als die Sterblichkeitsrate des dortigen Kriegsschauplatzes substantiell gestiegen ist und nun jene im Irak übersteigt. 2006 lag die Sterblichkeitsrate der Nato-Besatzungstruppen über dreimal so hoch wie bei den US-Truppen. Die Franzosen haben diese Entwicklung offensichtlich begriffen und ihre etwa 200 Special-Forces-Mitglieder Ende 2006 aus dem Süden und Osten des Landes abgezogen, wo sie seit 2003 dienten.

In Wirklichkeit liegt die Sterblichkeitsrate der US-Besatzungstruppen allerdings um einiges höher als die oben genannten 4,45. Der Grund dafür ist in dem wirtschaftswissenschaftlichen Phänomen der Pareto-Verteilung (long tail) zu suchen, das auch für das US-Militär gilt: Zur Unterstützung der Kampftruppen ist ein langer Schwanz an Hilfspersonal notwendig. Freilich ist zu berücksichtigen, daß das US-Militär viele dieser Dienstleistungen privaten Auftragnehmern übertragen hat (Firmen wie Halliburton-KBR, DynCorp, Triple Canopy, Blackwater, Executive Outsomes etc.)- weniger aus Kostengründen, als um die Zahl der militärischen Opfer zu reduzieren, die in den USA mit hohen politischen Kosten verbunden sind. 1998 betrug das Verhältnis zwischen Hilfspersonal und Kampftruppen laut US-Militärangaben 2,5:1. Über 70 Prozent der am Kriegsschauplatz stationierten Truppen sind somit nicht am Kampf beteiligt. Andere Quellen gehen sogar von einem Verhältnis 10:1 aus.

Reduziert man die Zahl am Kriegsschauplatz stationierten Truppen um 70 Prozent auf die am Kampfgeschehen beteiligten, so steigt die Sterblichkeitsrate enorm. Dabei wiederum findet der Umstand keine Berücksichtigung, daß viele der militärischen Todesopfer tatsächlich die Hilfstruppen betreffen, die beispielsweise für den Schutz von Konvois und andere logistische Aktivitäten zuständig sind, zumal sich der inländische Widerstand hauptsächlich gegen weiche Ziele (Hilfstruppen, Nicht-Regierungs-Organisationen etc.) richtet. Nicht zuletzt erhöht sich die tatsächliche Sterblichkeitsrate durch die langfristigen Auswirkungen abgereicherter Uranmunition.

Abschließend läßt sich also festhalten, daß die US-amerikanischen Kriege des 21. Jahrhunderts im Verhältnis zu der Zahl der beteiligten Soldaten viele unschuldige Zivilisten töten (und damit eine im 20. Jahrhundert begonnene Tendenz fortsetzen). Vor allem in Afghanistan liegt jedoch auch für die US-Truppen die Sterblichkeitsrate sehr hoch.

Angesichts der Fortschritte in den Bereichen Medizin, Militärdoktrin und Technologie, so schrieben Philip Carter und Owen West schon Ende 2004, "mögen manche Befürworter die Opferzahlen weiterhin als 'niedrig' bezeichnen unter der Maßgabe, daß normalerweise Zehntausende von Amerikanern in einem Krieg fallen müssen, bevor die Unterstützung in der Heimat wegbricht. Das geht jedoch am Kern vorbei. Die Gefallenenstatistiken verdeutlichen, daß unser Staat in einen Krieg verwickelt ist, dessen Intensität am Boden der früherer amerikanischer Kriege gleichkommt. Die heutigen Fußsoldaten patrouillieren ein Schlachtfeld, das nicht minder tödlich ist als die Feuerprobe, die ihre Väter in Südostasien zu bestehen hatten."

 

Dr. Marc W. Herold, Jahrgang 1943, ist Professor für Wirtschaft, Internationale Beziehungen und Frauenforschung an der Universität von New Hampshire (USA)

Foto: Offensive der von der Nato geführten Isaf in Süd-Afghanistan: Briten und Kanadier holen für die US-Truppen die Kohlen aus dem Feuer


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