© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Die neurotische Nation
Wann kommen die Deutschen runter von der Couch? Wir brauchen mehr geschichtliches Selbstbewußtsein
Doris Neujahr

Das Marine-Ehrenmal in Laboe bei Kiel, das den mehr als 150.000 gefallenen Angehörigen der deutschen Kriegsmarine in zwei Weltkriegen gewidmet ist, soll zu einem "Mahnmal für eine friedliche Seefahrt auf freien Meeren" und "für die auf See Gebliebenen aller Nationen" umgestaltet werden. Weiterhin ist an eine Vermietung für Opernaufführungen gedacht. Die Besucher dürfen hier künftig Spaß haben!

Die Pietätlosigkeit liegt in der Logik einer selbstzerstörerischen Geschichtspolitik, die sich in immer wilderen Purzelbäumen ergeht: Straßen werden umbenannt, weil ihre Namensgeber nicht dem BRD-Bewußtseinsstand entsprechen; Denkmäler, die zum Beispiel an die Vertreibung erinnern, werden umgewidmet oder abgeräumt. Im Gegenzug wurde in Berlins Mitte ein monströses Stelenfeld hineingeklotzt und werden Straßen mit sogenannten "Stolpersteinen" ausstaffiert, die an den Holocaust gemahnen. Die Absicht ist klar: Die deutsche Geschichte soll exklusiv mit dem Dritte Reich identifiziert und aus den Deutschen ein mythisches "Tätervolk" konstruiert werden, das sich willig in eine universelle Gedenkreligion einfügt. Alles, was sich gegen dieses Konstrukt sperrt, wird abgeräumt, lächerlich gemacht, verwässert. Wo symbolträchtige Gebäude wiedererrichtet werden, geschieht das nicht aus eigenem Recht, sondern im Zuge einer ins Endlose verlängerten Wiedergutmachung. Die Garnisonkirche in Potsdam ist als "Internationales Versöhnungszentrum" geplant, wo "die Notwendigkeit von Versöhnung in einer enger werdenden Welt durchbuchstabiert wird" und "von dem aus die Erfahrung mit eigener Schuld, mit beginnender Veränderung und mit geschenkter Versöhnung hinaus in die Welt getragen werden könnte". Mehr als politisch korrekten, infantilen Gesinnungskitsch hat die Evangelische Amtskirche den Menschen nicht anzubieten!

Die Wirkung der ursprünglich notwendigen, dann zum Selbstzweck gewordenen Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit ist wahrhaft umwerfend. Vier Entwicklungsphasen lassen sich rückblickend feststellen: Die erste, die Amalgamierungsphase, setzte mit der Gründung der Bundesrepublik ein. Sie sollte sich auf der Seite des Westens als wehrhaft erweisen, im Gegenzug mußte auf die natürlichen Gefühle ihrer Bürger Rücksicht genommen werden Die Pflege militärischer Traditionen inklusive Totengedenkens gehörten dazu, und zwar in dem Maße, wie sie sich mit den Interessen und dem Selbstverständnis einer westlichen Interessengemeinschaft vereinbaren ließ.

Die zweite, die Konkurrenzphase, begann Ende der fünfziger Jahre mit der Vergangenheitsbewältigung. Mit Rolf Hochhuths "Stellvertreter" oder dem volkspädagogisch aufbereiteten Auschwitzprozeß trat das Schuld- dem Nationalbewußtsein kämpferisch entgegen.

Die folgende Phase der Etablierung und Herrschaftssicherung begann spätestens mit der Filbinger-Affäre 1978 und erreichte den Höhepunkt im Historikerstreit. Die Wiedervereinigung bot die Chance, die Entwicklung umzukehren, doch mit den Brandsätzen gegen Ausländerquartiere, von denen bis heute manche mehr Fragen aufwerfen, als belastbare Antworten zur Verfügung stehen, gewann sie wieder an Fahrt.

In der vierten, der Tabuphase, wurde die kollektive Selbstverneinung via Strafrecht und durch Denkmals- und Museumsbauten festgeschrieben. Zur Zeit befinden wird uns in der fünften Phase, in der nationale Artefakte banalisiert oder abgeschafft werden.

Die Schleifung der tradierten, nationalen Gedenklandschaft und ihre Umwandlung in eine universelle ist nicht nur ein ästhetisches Problem, dahinter steht ein politisches. Wer keine Zwischeninstanz zwischen dem Individuum bzw. der Familie und der Menschheit mehr duldet, bezahlt das mit dem Verlust politischer Handlungsfähigkeit, die sich noch dort, wo supranationale Organisationen das Sagen haben, über die Einzelstaaten herstellt. Das nationale Totengedenken ist Teil dessen, was Arnold Gehlen das "Eigenethos des Staates" nennt. Der Staat soll den Menschen Sicherheit garantieren, dafür benötigt er Disziplin, Nüchternheit, Wachsamkeit, Ausdauer, Konzentration, rationalen Gefahrensinn - allesamt politische Tugenden, die auf Distanzierung hinauslaufen und sich auf das Ehrgefühl stützen. Ehrgefühl bedeutet Wille zur Selbsterhaltung, heißt Bekenntnis der Nation zu sich selbst und vor der Welt. Es drückt sich aus in dem erkennbaren Willen, physische und moralische Angriffe auf sich zurückzuweisen. Die Unfähigkeit, der Landnahme und Enteignung durch die Zuwanderung von Unterschichtsangehörigen entgegenzutreten, und die deutsche Dauerflagellation sind zwei Seiten derselben Medaille.

Eine weitere Folge der das eigene Selbst negierenden Geschichts- und Gedenkpolitik die fortschreitende Asozialisierung in der Gesellschaft. Die Umwidmung von Laboe symbolisiert die Aufkündigung jener "Trauersolidarität", die der Berliner Sozialphilosoph Peter Furth in seinem fulminanten Buch "Troja hört nicht auf zu brennen" als die Grundlage des Sozialen beschreibt. Denn in der Trauer und im Gedenken setzt sich das Ritual der Bestattung fort. Bei dieser handelt es sich um eine soziale Urszene, welche die Lebenden mit den Toten und in der Folge die Lebenden untereinander in ein emotionelles Verwandtschaftsverhältnis bringt.

Dieser Zusammenhang zwischen Pietät und Gesellschaftlichkeit bildet die "innere moralische Natur der Gesellschaft" und die Voraussetzung der Vertragsloyalität. Sie kann nicht künstlich hergestellt werden und ist der Zweckrationalität folglich entzogen. Ihre Eigenmacht zu verleugnen, bedeutet, sich dem kapitalistischen Nützlichkeitsdenken in selbstzerstörerischer Weise zu unterwerfen. Furth nennt das die "Bewirtschaftung der Toten". Die Aufkündigung der Solidarität mit ihnen und ihre Unterwerfung unter Konjunkturinteressen, die sich morgen schon wieder ändern können, zerstören auch die Solidarität zwischen den Lebenden.

Mehr noch: Da im Trauerkultus und im Gedenken auch "die Dauer des menschlichen Wesens (über) die Verwesung" triumphiert, fordern ihre Leugner ihr eigenes, furchtbares Schicksal heraus. Denn welchen Grund haben sie den Nachkommenden hinterlassen, an ihnen einmal besser zu handeln? Während sie noch leben, vollzieht sich an ihnen bereits symbolisch die Verwesung. Eine Ansammlung derartiger Individuen kann auf längere Sicht weder einen Staat noch eine Nation, auch keine Kultur- und oder verfassungspatriotische Gemeinschaft bilden. Sie bilden einen Kehrichthaufen, der nach der Mülltonne ruft.


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