© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

In der Schuldspirale
Filbinger und die Wehrgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg pars pro toto
Doris Neujahr

Ohne die Mitgliedschaft in der SA und im Nationalsozialistischen Studentenbund hätte der jüngst verstorbene Hans Filbinger, der einem religiösen Milieu entstammte, im Dritten Reich kaum sein Jurastudium abschließen können. Sie sind daher kein zwingender Beleg für eine NS-Gesinnung. Als Voraussetzung für das zweite Staatsexamen hatte man ihm den Eintritt in die NSDAP ausdrücklich nahegelegt, 1937 folgte er dem Wink. Auch zur Tätigkeit in der Marinejustiz hatte er sich nicht gedrängt, er wurde 1943 abkommandiert. Nach allem, was bekannt ist, hat er, wo er konnte, die Todesstrafe bzw. ihre Vollstreckung zu verhindern versucht (siehe auch Seite 7 dieser Ausgabe).

"Fahnenflucht" seit 1872 mit der Todestrafe sanktioniert

Grundlage seiner Tätigkeit war das Militärstrafgesetzbuch von 1872 (inklusive der Zusatzbestimmungen für die Marine), das im Dritten Reich durch eine neue "Kriegssonderstrafrechtsverordnung" verschärft wurde, die u.a. den Tatbestand der "Wehrkraftzersetzung" einführte. Das Delikt der "Fahnenflucht", das schon seit 1872 mit der Todestrafe sanktioniert war, wurde durch "Führerrichtlinien" präzisiert. Heute ist es üblich, die deutsche Militärgerichtsbarkeit pauschal als "Blutjustiz" zu bezeichnen. Dazu ist zu sagen, daß Fahnenflucht weltweit geahndet wird. Wenn Hitler in "Mein Kampf" sinngemäß schrieb, für den Kriegsdeserteur müsse die Möglichkeit des Todes, der er sich entziehen wolle, im Moment der Fahnenflucht zur Gewißheit werden, dann ist das keine spezifische nationalsozialistische Grausamkeit, sondern bringt die bis heute gültige Abschreckungslogik auf den Punkt. Während des Zweiten Weltkriegs sind deswegen 12.000 bis 16.000 Todesurteile gegen deutsche Soldaten verhängt worden, wovon wohl die Hälfte vollstreckt wurde. Das waren viel mehr als in den westlichen Armeen, aber weniger als der interne Blutzoll der Roten Armee. Ein Grund für die hohe Quote mag die NS-Ideologie gewesen sein, die dezidiert das Kollektiv über den Einzelnen stellte.

Eine größere Rolle spielte das Trauma der Niederlage von 1918. Die Novemberrevolution, die der Armee angeblich von hinten den "Dolchstoß" versetzt hatte, war durch den Kieler Matrosenaufstand eingeleitet worden. Ein derartiger Zusammenbruch der Kriegsmoral sollte sich nicht wiederholen. Entscheidend für die Härte der Justiz war schließlich die tatsächliche Kriegslage. Mit der englisch-französischen Kriegserklärung am 3. September 1939 stand das Reich mit dem Rücken zur Wand. Als der sowjetische Außenminister Molotow im November 1940 zu Verhandlungen in Berlin weilte, zitierte er genüßlich die deutsche Propaganda: Einerseits behaupte sie, der Krieg gegen England sei bereits gewonnen, andererseits werde gesagt, man kämpfe gegen England auf Leben und Tod. Das könne er "nur so auffassen, daß Deutschland auf Leben und England auf Tod kämpfe".

Mit anderen Worten: Selbst auf dem Höhepunkt deutschen Kriegsglücks war klar, daß England schlimmstenfalls die Schmälerung seiner Macht drohte, für Deutschland aber die Existenz auf dem Spiel stand. Das bestimmte die innere Kriegführung. Es ist kein Zufall, daß 1943, als die Westalliierten die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation erhoben, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine einen Erlaß herausgab, der die Strafandrohung für Fahnenflucht verschärfte und das Todesurteil als Regelfall vorschrieb.

Politische oder Gewissensgründe waren nur in den seltensten Fällen für die Deserteure bestimmend. Überdies war damit zu rechnen, daß sie durch freiwillige oder erzwungene Aussagen das Leben ihrer Kameraden gefährdeten. Als besonderes Beispiel für die Grausamkeit der Militärjustiz gelten die Todesurteile, die das Reichskriegsgericht 1942 gegen Angehörige der "Roten Kapelle" verhängte, die Moskau über militärische Pläne und kriegswirtschaftliche Kennziffern informiert hatte. Wer die deutsche Seite mit vergleichbaren Informationen über die Alliierten versorgte, mußte freilich mit genauso drakonischen Strafen rechnen. Nichts anderes besagte der Ausspruch Filbingers, der ihm im Munde herumgedreht und zum Verhängnis werden sollte: "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!"

Zuschreibung eines kollektiven Verbrechertums

Für Deutschland ist die völkerrechtliche Normalität, auf die Filbinger hinwies, jedoch außer Kraft gesetzt. Die Siegermächte haben ihr propagandistisches Selbstbild als geschichtliches Faktum durchgesetzt: Sie waren demnach Vollstreckungsbeamte eines übernationalen Menschheitsgesetz, das gegen Deutschland als Feind des Menschengeschlechts ("hostis generis humani") exekutiert werden mußte. Von dieser Zuschreibung kollektiven Verbrechertums sind logischerweise nur diejenigen ausgenommen, die in irgendeiner Weise den Alliierten zuarbeiteten, und sei es als Deserteure.

Die von Rolf Hochhuth 1978 angestoßene sogenannte Filbinger-Affäre, in deren Ergebnis Filbinger auf den "furchtbaren Juristen" festgelegt wurde, erweist sich rückblickend als eine entscheidende Erziehungsmaßnahme zur Übernahme des Erklärungsmusters durch die Bundesrepublik. Sie ist verbunden mit der Introduktion eines Schuldgefühls, das nach immer mehr Trauerarbeit ruft, welche die Schuld- und Schamgefühle aber weiter steigert, anstatt sie zu lindern. Die Schuldspirale erfaßt immer mehr Lebensbereiche, die als tendenziell verbrecherisch abqualifiziert werden, und bohrt sich immer tiefer in die Vergangenheit. Da Günther Oettinger diese historischen, rechtlichen und psychologischen Zusammenhänge auf gar keinen Fall benennen durfte - sie waren ihm nicht einmal klar -, blieb ihm, um Filbinger zu rehabilitieren, nur die ahistorische Pointe, ihn auf den entschiedenen NS-Gegner und Freund der Menschheit festzulegen.

Foto: Hans Filbinger tritt als baden-württembergischer Ministerpräsident zurück, August 1978: Übernahme der Erklärungsmuster


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