© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Den Drachen niederkämpfen
Pfadfinderbewegung: Ritterlichkeit als Leitidee, der Heilige St. Georg als Leitfigur
Manfred Müller

Der Georgstag am 23. April erhält in diesem Jahr für Pfadfinder in aller Welt eine besondere Bedeutung. Vor 150 Jahren wurde der Gründer der Pfadfinderbewegung, Robert Baden Powell, geboren, vor 100 Jahren erprobte er in einem Zeltlager mit 22 Jungen aus allen sozialen Schichten sein pädagogisches Konzept. Dieses legte er ein Jahr später in seinem Buch "Scouting for Boys" vor. Ritterlichkeit ist seither für Pfadfinder eine Leitidee und der ritterliche Drachenkämpfer Sankt Georg eine Leitfigur.

Neben Sankt Georg, dem legendären Schutzpatron der europäischen Ritterschaft, verkörperte in England eine Sagengestalt den Begriff Ritterlichkeit: König Artus (mit seiner Tafelrunde). Artus war zwar ein großes Vorbild, ihm fehlte aber ein seit vielen Jahrhunderten begangener Festtag wie der des Ritters Georg. So wurde der Gedächtnistag Georgs zum Festtag der Pfadfinder.

Als historischer Kern wuchernder spätantiker und mittelalterlicher Legenden um Sankt Georg läßt sich die Märtyrergestalt eines aus Kappadozien stammenden römischen Offiziers ausmachen, der um 303 unter Kaiser Diokletian enthauptet wurde. Erst im 11. Jahrhundert verband sich mit diesen Legenden die Geschichte von Georgs Drachenkampf. Vieles vom Glanz und von der Faszinationskraft mythologischer Drachenkämpfer (von Marduk über Perseus bis zu Siegfried) ist auch bei Georg zu finden. Diese Faszination rührt daher, daß der Drache in den meisten Kulturen das Prinzip des Dunklen, Bedrohlichen und Bösen verkörpert.

Schon früh galt Georg, bedingt durch seinen weltlichen Beruf, in der Ostkirche als ein Schlachtenhelfer. Ritter, die vom 1. Kreuzzug heimkehrten, berichteten vom wunderbaren Erscheinen und Eingreifen Georgs. Als Weißer Ritter habe er den Kreuzfahrern, denen vor Erschöpfung im Entscheidungskampf der Sieg zu entgleiten drohte, neue Kraft verliehen. (Der Ritter in der weißen Rüstung mit dem roten Kreuz steht über seinen Schimmel in Beziehung zum weißen Pferd Christi in der Apokalypse.) Die Identifizierung Sankt Georgs mit dem Weißen Ritter lag auch deshalb nahe, weil die Kreuzfahrer in Georgs Drachenkampf ihre eigene Mission gespiegelt sahen. Für sie verkörperten die Muslime den Drachen, aus ihrer Gewalt wollten sie die heiligen Stätten der Christenheit befreien.

Ganz stark entfaltete sich die Georgsverehrung in England. Im 3. Kreuzzug soll Sankt Georg dem König Richard Löwenherz und dessen Mitstreitern im Kampf erschienen sein; sie verbreiteten Georgs Ruhm in der Heimat. Die Synode von Oxford (1222) stellte den Georgstag den großen kirchlichen Feiertagen gleich. 1347 wurde der Heilige offiziell der Patron Englands. Seit 1349 beging man den Georgstag feierlich auf Schloß Windsor. Die Reformation konnte dem Georgstag wenig anhaben. Bei der Neuregelung der Feiertage in England blieb 1536 Georgs Festtag bestehen. Zwar ordnete der Bischof von London 1552 an, den Festtag von Sankt Georg nicht mehr zu begehen, doch streng befolgt wurde dies nicht. Georg wurde zum Gentleman-Heiligen. Verwunderlich ist das nicht, denn in die Erziehung zum Gentleman ist vieles von der ritterlichen Ethik und dem ritterlichen Verhaltenskodex des Mittelalters eingegangen.

Als der britische Offizier Baden Powell im Burenkrieg eingesetzt wurde, arbeitete die britische Propaganda im Kampf gegen die um ihre Freiheit ringenden Buren auch mit dem Georgsmotiv. So legte etwa C.W.B. Clarke, Dechant an der Georgskathedrale von Kapstadt, in einer Schrift dar, Georgs Name bedeute zwar "Bauer", habe aber nichts mit den Buren zu tun (im Niederländischen und Afrikaans: "boer" = Bauer). Sankt Georg stehe auf der Seite der Briten. Ein anderer Autor gab seinem Propaganda-Büchlein den Titel "Sankt Georg und der Drache von Transvaal". Die Buren waren hier der gräßliche Drache, und die Briten traten gegen ihn an als die "Söhne Sankt Georgs". Baden Powell sah zwar in Sankt Georg die Verkörperung von Rittertum und englischer Art, sein Patriotismus tendierte aber im Vergleich zu vielen Zeitgenossen weniger stark in Richtung auf einen imperialistisch getönten Chauvinismus.

Baden Powell hätte Georgs Namen durchaus in die Organisationsbezeichnung der von ihm gegründeten Pfadfinderbewegung hineinnehmen können. Andere griffen bewußt auf den Namen des Landespatrons zurück, wenn sie das Wesen ihrer Organisation kennzeichnen wollten. So der Schriftsteller und Sozialphilosoph John Ruskin, der als leidenschaftlicher englischer Patriot 1871 die St. Georgsgilde gründete, eine Vereinigung, die der Förderung der englischen Landwirtschaft dienen sollte. 1894 wurde die Royal Society of St George gegründet. Sie sollte den patriotischen Geist in allen Klassen und Schichten des englischen Volkes fördern und zählte viel Prominenz unter ihren Mitgliedern (z. B. den Dichter Rudyard Kipling).

Bis heute begehen Englands Pfadfinder den Georgstag mit Aufzügen, Gottesdiensten und festlichen Versammlungen. Einen solchen Grad der Öffentlichkeitswirkung haben Deutschlands Pfadfinderbünde nicht erreicht. Dennoch hatte Sankt Georg für die deutschen Pfadfindergemeinschaften und darüber hinaus für die bündische Jugend der Zwischenkriegszeit durchaus Bedeutung Dafür zeugt zum Beispiel das keineswegs konfessionell ausgerichtete Liederbuch St. Georg (aus den 1920er Jahren). Die sehr anregend wirkende, anspruchsvolle Führerzeitschrift Der Weiße Ritter spielte mit diesem Titel auf Sankt Georg (und damit auf das Leitbild des Ritters) an. Zur Zeit der Berliner Olympiade bildete sich in der Reichshauptstadt eine illegale bündische Oppositionsgruppe, die nicht konfessionell ausgerichtet war, sich aber den Namen "Sankt Georg" gab. Der katholische Zweig der deutschen Pfadfinderbewegung nannte sich seit 1929 "Deutsche Pfadfinderschafft Sankt Georg" (DPSG).

In der heutigen DPSG ist das Georgsgedenken seit den APO-Jahren nur noch in zeitgeistgemäß abgewandelter Form zu finden. Dazu paßt, daß in einem "neuen" Georgslied der Drache unter anderem die fürchterliche deutsche Ausländerfeindlichkeit verkörpert. Baden Powell würde über diese Banalisierung der von ihm gepriesenen "chivalry" (Ritterschaft/Ritterlichkeit) nur den Kopf schütteln.

Foto: Albrecht Altdorfer, "Waldlandschaft mit St. Georges Drachenkampf" (Ausschnitt, 1510)


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