© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

"Die größte Gefahr seit Staatsgründung"
Türkei: Die laizistische Elite und die Armeeführung sehen das Land von Islamisten und Kurden bedroht
Günther Deschner

Seit Monaten kommen aus Ankara drei Forderungen: Die irakische Armee und die US-Besatzungsmacht müßten endlich gegen jene PKK-Kräfte vorgehen, die 1999 nach türkischen Kriegsdrohungen gegen Damaskus aus ihrem syrischen Refugium vertrieben worden waren und in den Kandilbergen der irakischen Kurdenregion - 100 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt - Zuflucht gefunden hatten. Zweitens müsse die Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, die de facto seit 1991 besteht und nach dem Sturz Saddam Husseins in der neuen irakischen Verfassung auch de jure abgesichert worden ist, die Duldung der PKK-Kräfte in ihrem Gebiet beenden und deren Führer ausliefern. Und drittens müsse der gewählte Präsident der Kurdenregion, Massud Barsani, seine Politik aufgeben, das Gebiet des ölreichen Kerkûk (Kirkuk), das Saddam massiv arabisiert hatte, mit dem autonomen Kurdengebiet zu vereinigen.

Alle drei Forderungen Ankaras blieben unerhört: Die US-Streitkräfte erklärten wiederholt, ihre Soldaten seien mit dringenderen Problemen beschäftigt. Barsani besteht auf der Durchsetzung des Artikels 140 der Verfassung des Irak, der die Rückführung der von Saddam deportierten Kurden in das Kerkûk-Gebiet und bis Ende 2007 eine Volksabstimmung darüber vorsieht, ob es in das Autonome Kurdistan eingegliedert werden soll. Und Bagdad verbat sich in harschem Ton die Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irak. So wird das Säbelrasseln aus Ankara immer lauter, vergangene Woche erreichte es einen Höhepunkt.

Barsani konnte sich nicht verkneifen, den Türken auszumalen, was geschehen könne, falls sich Ankara in die Entscheidung um Kerkûk militärisch einmischen sollte: Was würde die Türkei davon halten, fragte er in einem Interview, wenn sich die irakischen Kurden umgekehrt in Diyarbakır (Amed) und anderen türkischen Städten mit großem kurdischem Bevölkerungsanteil einmischten und die Freiheitsbestrebungen der mindestens 15 Millionen türkischen Kurden verstärkten? "Jeder vierte oder fünfte türkische Staatsbürger ist Kurde", so Barsani- Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan giftete zurück: "Die Kurdische Autonomieregierung im Irak kann leicht an ihren großen Worten zugrunde gehen und zermalmt werden." Außenminister Abdullah Gül beschwerte sich postwendend bei seiner US-Kollegin Condoleezza Rice, um ihr die "Besorgnisse" der Türkei zur Kenntnis zu bringen. Danach machte der türkische Generalstabschef Mehmet Yaşar Büyükanıt die türkischen Einmarschpläne erstmals amtlich: "Aus Sicht des Militärs ist eine Operation in den Irak notwendig, geboten und möglich." Der General bezichtigt seit längerem die irakischen Kurdenparteien, die PKK zu unterstützen. Vordergründig kann sicher eine Rolle spielen, daß das Militär verstärkte Aktivitäten der PKK-Rebellen erwartet, sobald mit der Schneeschmelze die hochgebirgige Grenzregion wieder passierbar wird.

Widerstand gegen Kandidatur von Regierungschef Erdogan

Die türkischen Streitkräfte bereiten sich offenkundig auf eine Offensive in den Nordirak vor: Wie das angesehene Jamestown Institute berichtet, werden derzeit in Grenzabschnitten Minengassen geräumt, Spezialkräfte sind zur Vorbereitung der Operationen 20 bis 40 Kilometer tief in den Irak eingedrungen, für die vorgesehenen und teilweise bereits an die Grenze herangeführten Angriffsverbände wurde eine dreimonatige Urlaubssperre verhängt. Das militärische Ziel dürften die PKK-Kräfte in den Kandilbergen sein.

Doch von weit größerer Relevanz als die Dezimierung der "schwachen, schlecht ausgerüsteten, überalterten und demotivierten" (Jamestown Institute) PKK-Kräfte sind Ankaras politische Ziele: Man erwartet, daß die zum Jahresende anstehende Abstimmung darüber, ob Kerkûk dem kurdischen Autonomiegebiet zugesprochen wird oder nicht, zugunsten der Kurden ausgehen wird (JF 9/07). Ankara fürchtet, daß der dortige Ölreichtum die Stärkung der kurdischen Autonomieregion und damit auch die Akzentuierung des Kurdenproblems mit sich bringen wird. An dessen Lösung hat sich seit Kemal Atatürk noch keine türkische Regierung versucht.

In der schwierigen innenpolitischen Situation, in der sich die Türkei befindet, wird dieser Konflikt vor den anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen aber vor allem zunehmend zum Machtkampf zwischen dem laizistischen Militär und der islamisch grundierten Regierung. Die Bemerkung des Armeechefs, er erwarte "für den Kampf gegen Lager der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak" die uneingeschränkte politische Unterstützung der Erdoğan-Regierung, zielt in diese Richtung.

Büyükanıt will den Premier nicht nur in der Kurdenfrage vor sich hertreiben. In seiner Pressekonferenz machte er auch klar, daß er weiterhin einen Laizisten und nicht den islamisch geprägten Erdoğan an der Staatsspitze sehen will. Die Befürchtung des Militärs und vieler ziviler laizistischer Kräfte ist, daß Erdoğan im Mai selbst als Präsidentschaftskandidat antritt und mit der Zweidrittelmehrheit, über die seine AKP im Parlament verfügt, gewählt wird. Die islamische AKP kann dann weitere Schlüsselstellungen des Staates besetzen. Ein solches Szenario läßt Befürchtungen aufkommen, die seit Atatürk strikte Trennung von Staat und Religion könne aufgeweicht werden. Deshalb war in den letzten Wochen immer wieder darüber diskutiert worden, ob die Armee als Hüter der laizistischen Republik es hinnehmen würde, wenn Erdoğan sich wählen läßt. Die Armee hat in den vergangenen Jahrzehnten vier Regierungen gestürzt. 1997 wurde Premier Necmettin Erbakan (ein damaliger Parteifreund Erdoğans) aus dem Amt gedrängt, weil das Militär ihn für zu islamistisch hielt. Kürzlich tauchten Gerüchte auf, einflußreiche Militärs hätten auch 2004 Pläne für einen Putsch gegen die gerade ins Amt gekommene Regierung Erdoğan ventiliert.

In diesen Tagen muß sich Erdoğan erklären, ob er für das Präsidentenamt kandidiert. Ob es wirklich so ist, wie der scheidende parteilose Präsident Ahmet Necdet Sezer formulierte, daß sich das säkulare System der Türkei "in der größten Gefahr seit der Gründung der Republik im Jahr 1923" befindet, sei dahingestellt. Doch die beiden Sollbruchstellen der Türkei, an denen sie auch zerbrechen kann, wurden dieser Tage sichtbar: der Gegensatz zwischen Staat und Religion und das ungelöste Verhältnis der Türkei zu den Kurden.


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