© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

CD: Rock
Urschlamm
Michael Insel

Kaum ein Freund zeitgenössischer Musik, der nicht irgendwann neugierig würde, welche Einflüsse und Inspirationen die Lieblingsinterpreten in ihren Anfangsjahren prägten. Und wie mag der tausendmal gehörte Ohrwurm geklungen haben, bevor ein Tontechniker am Mischpult ihm den professionellen Schliff verpaßte? Das blühende Geschäft mit Tribute- und "Unplugged"-Alben, ganz zu schweigen von den Bootlegs auf dem Trödelmarkt - welcher Beatles-Fan träumte nicht von Live-Mitschnitten aus dem Hamburger Star Club in noch so schlechter Tonqualität -, bezeugt dieses rege Interesse, das nun auch die Plattenfirma Frontiers mit zwei Neuveröffentlichungen bedient.

In beiden Scheiben ist sozusagen drin, was auf der CD-Cover draufsteht. Tommy Shaw und Jack Blades sind Stadion-Veteranen aus gemeinsamen Zeiten bei Damn Yankee. Erste Hardrock-Sporen erwarben sie sich bei Styx bzw. Night Ranger. Sowenig Originalität der Titel "Influence" verspricht, wartet ihr neues Album doch mit mancherlei Überraschung auf. Zu nennen wäre die schmissige Interpretation der Zombies-Nummer "Time of the Season", ein unter die Haut gehendes Cover von Buffalo Springfields Protestlied "For What It's Worth" und eine Psych-Groove-Version des Sechziger-Jahre-Pophits "On a Carousel", die eindeutig besser klingt als das Original von den Hollies.

Ansonsten bietet die CD straffe Stimmharmonien, die schon das 1995er Debüt "Hallucination" als eine Stärke des Duos auswies. Unbeschwerte Melodien wie der Seal & Croft-Klassiker "Summer Breeze", Simon & Garfunkels Folk­rock-Hymne "Sound of Silence" oder "California Dreamin'" von The Mamas and the Papas lassen eine Ahnung davon aufklingen, welch sanftmütige Herzen in der Brust solch strammer Rocker schlagen. Und doch besteht das eigentliche Verdienst dieser interessanten Auswahl weitgehend solide nachgespielter Stücke darin, den Hörer zum Stöbern in der eigenen Plattensammlung zu veranlassen.

Ganz anders Wingers "Demo Anthology": Man müßte schon taub sein, um die Gedanken allzuweit abschweifen zu lassen. Hier zeigen sich die Helden des Hair Metal von ihrer grandiosen Seite: laut, ungehobelt, draufgängerisch, bevor ein Produzent sich daran versuchte, aus dem Urschlamm kommerzielles Gold zu schürfen. Die Doppel-CD enthält sämtliche Hit-Singles ihrer ersten drei Alben für Atlantic Records sowie zehn Raritäten oder gänzlich unveröffentlichte Stücke. Daß der Gesang dabei manchmal vom Schlagzeug übertönt wird oder die Aufnahme ein wenig gedämpft klingt, beeinträchtigt nicht die pure Lust, wenn Kip Winger, Reb Beach, Paul Taylor und Rod Morgenstein es ordentlich krachen lassen.

Die erste CD bietet Rohfassungen der auf Wingers gleichnamigem Debüt (1988) und auf "In the Heart of the Young" veröffentlichten Stücke. Weniger gut kam seinerzeit beim Publikum das allzu progressive nächste Album an, "Pull" (1993), dessen Material hier zusammen mit dem Löwenanteil bisher unveröffentlichter Stücke die zweite CD füllt.

Den Einstieg bilden dieselben drei Nummern wie vor zwanzig Jahren. Als Single-Auskopplungen von "Winger" waren "Madelaine", "Hungry" und "Seventeen" damals Charts-Stürmer. Bar ihrer Pop-Metal-Patina klingen die dröhnenden Gitarrenriffs, Trommelwirbel und unbändigen Griffbrettkapriolen völlig frisch. Andere alte Favoriten wie die melodische Ballade "Headed For A Heartbreak" oder "Miles Away", das Liebeslied aus dem Golfkrieg von 1991, warten mit ähnlich reizvollen Verfremdungseffekten auf. Die wahren Schätze aber lauern in jenen Stücken, die es nie ganz auf eine Platte schafften: der Gitarrensturm auf "Skin Tight" etwa oder die abenteuerlichen Akkordfolgen auf "Without Warning". Insgesamt eine hervorragende Ergänzung zum letztjährigen Comeback-Album "Winger IV" (JF 43/06).


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