© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

Pankraz,
B. Cassin und Europa als Sprachklub

Interessanter Beitrag zum jüngsthin so verschwafelten Thema "Europa": Zwischen Italien und Frankreich geht ein Streit über "die wahre Sprache Europas". "Die Sprache Europas ist die Übersetzung", postuliert Umberto Eco im römischen Magazin L'Espresso. Barbara Cassin aus Paris, Herausgeberin des berühmten "Vocabulaire européen des philosophies" (Edition de Seuil, Paris 2004), hält dagegen: "Die Sprache Europas ist das Unübersetzbare." Ihr "vocabulaire", ein Riesenwälzer von über 1.500 Seiten, trägt ausdrücklich den Untertitel: "Dictionnaire des intraduisibles", "Wörterbuch der Unübersetzbarkeiten". Sie meint es ernst.

Beide, Eco wie Cassin, sind sich einig in der Geringschätzung des "Globisch", jenes bürokratisierten und technifizierten Pidgin-Englisch also, das heute allerorten als "Servicesprache" im Gebrauch ist. Beide sagen: Nie und nimmer wird dieser Slang zur Sprache eines geeinten Europa werden, dazu ist er zu wurzellos, zu sehr an flüchtiger Halbverständigung auf Kongressen und bei Popkonzerten orientiert, zu unkräftig. Indes, man zieht verschiedene Schlußfolgerungen aus der gemeinsamen Einsicht.

Umberto ist der Gemütlichere. Das Globisch kann unseren europäischen Muttersprachen nichts antun, meint er, wir müssen nur ("nur"!) in allen unseren Ländern eine intensive, ausgedehnte und höchsten Ansprüchen genügende Übersetzerkultur entwickeln, müssen die Übersetzer gewissermaßen zur privilegierten Kaste machen, wie man das früher mit den Offizieren und noch früher mit den gelehrten Mönchen getan hat. Dann wird alles gut.

Frau Cassin hat eine Menge gegen solche "Harmlosigkeit" einzuwenden. Die Übersetzer können noch so gut sein, höhnt sie, sie kommen trotzdem nie an die Sprache heran, aus der oder in die sie übersetzen. Je besser ein Übersetzer ist, um so zögerlicher und skrupelhafter wird er beim "Übersetzen". Denn der Übersetzer hat es mit "Begriffen" zu tun, die Sprachen hingegen bestehen aus "Wörtern", die sich nur teilweise mit Begriffen decken, wenn überhaupt.

Eine spektakuläre, eine faszinierende Behauptung! Bleibt denn, wenn sie stimmt, überhaupt noch etwas von Europa als wahrnehmbarer Sprachgemeinschaft übrig? Durchaus, sagt Frau Cassin. Indem die europäischen Nationen sich mit voller Empfindlichkeit dem Verständnis und der Pflege ihrer jeweiligen Muttersprache widmen, wachsen sie zu einer einzigartigen Einheit zusammen, einem privilegierten Klub, der die Sprache wirklich ernst nimmt und sich gerade dadurch positiv von anderen Weltgegenden abhebt.

Dort sinken bekanntlich immer mehr Originalssprachen zu bloßen Servicesprachen ab, versuchen, zum Globisch in Konkurrenz zu treten und werden von ihm überrollt und ausgelöscht. Parallel zum Aussterben von Tierarten läuft zur Zeit ein großes Sprachensterben. Vor allem "kleine" Sprachen, Sprachen von Völkern, die ohne ordentliche Vorbereitung in den Prozeß der sogenannten Modernisierung und Globalisierung hineingerissen werden, erleiden dieses Todesschicksal.

Wir Europäer, sagt Barbara Cassin, finden unsere Identität nicht zuletzt darin, daß wir das Sprachensterben auf unserem Kontinent aktiv verhindern. Unsere "kleinen" Sprachen, das Baskische etwa oder das Maltesische, brauchen keine Angst vor der Auslöschung zu haben. Wir kümmern uns um sie schon aus Gründen der Selbsterhaltung. Entsprechend ausführlich sind Baskisch, Maltesisch e tutti quanti im Cassinschen Wörterbuch der Unübersetzbarkeiten vertreten, quasi gleichberechtigt neben den "großen" Sprachen, zu denen übrigens auch das Ukrainische, das Finnische oder das Albanische gehören.

Pankraz interessierte sich bei der ersten Lektüre vor allem für die Strecke der deutschen "Wörter", die sich angeblich nicht ohne weiteres auf einen "Begriff" abziehen lassen. Er war, um ehrlich zu sein, etwas enttäuscht. Die Pariser Gelehrten haben es sich vielleicht ein bißchen zu leicht gemacht. Sie scheinen allzu sehr dem in der französischen Geistesgeschichte ziemlich verbreiteten Klischee zu vertrauen, wonach das Deutsche ausgesprochen gefühlshaft-diffus sei, zu wenig "rational" im Stile Descartes', was dann also das Verständnis erschwere.

So steht unser Wort "Gefühl" ganz oben auf der Liste, gefolgt von "Sehnsucht", "Anverwandlung", "Heimat", "Begehren" "Einsicht" (während etwa aus dem Russischen eher "harte" Wörter wie "Mir" (Welt) oder "Prawda" (Wahrheit) als eintragenswert empfunden werden. Es kommt bei der Auswahl von Unübersetzbarkeiten offenbar nicht zuletzt darauf an, wer auswählt, in welcher Sprache jener wohnt, der auswählt. Das ist ja auch nicht verwunderlich, denn der Auswähler selber ist in anderen Sprachgegenden (und nicht nur dort) partiell "unübersetzbar", ein Fremdling bei aller eventuellen Vertrautheit, ein Solitär.

Jeder hat letztlich seine eigene Sprache, die nie ganz in die Sprache des anderen übersetzbar ist. Und was für den einzelnen gilt, das gilt selbstverständlich auch für die Sprachgemeinschaft insgesamt. Die semantischen Verabredungen, die sie trifft, geschehen gleichsam situativ, aus speziellen raumzeitlichen Gegebenheiten und Stimmungen heraus, welche später nur noch schwer nachzuvollziehen, noch schwerer zu rekonstruieren sind. Auch die eigene Muttersprache ist uns in vielen Dimensionen ein Leben lang fremd und muß immer wieder für den aktuellen Sprachgebrauch "übersetzt" werden.

Man kann auch sagen: Wir suchen, selbst in der Muttersprache, ständig nach dem Begriff, auf dem wir unsere Wörter unterbringen und verfügbar halten können. Die Wörter leiden darunter, verlieren beträchtlich an Welthaltigkeit und Sinnhaftigkeit, am meisten natürlich, wenn es sich um Begriffe aus fremder Sprache handelt. Die Wörter werden instrumentalisiert, werden zu bloßen Servicepartikeln. Aber anders können wir nicht leben.

Gute Übersetzer helfen uns, die Spannung zwischen Sinnverlust und Servicegewinn auszuhalten, sie zu überbrücken. Umberto Eco hat recht: Europa braucht viele gute Übersetzer.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen