© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/07 06. April 2007

"Die Spur ins Dunkel"
Immer mehr Deutsche besinnen sich ihrer Ahnen. Der Genealoge Lupold von Lehsten erklärt, warum
Moritz Schwarz

Herr Dr. von Lehsten, woher kommt das spürbar wachsende Interesse der Deutschen für ein so konservatives Thema wie Ahnenforschung?

Lehsten: Nach 1945 galt die Ahnenforschung zunächst vielfach als verpönt, und man wurde schnell in die rechte Ecke gestellt, wenn man sich damit beschäftigte. Aber spätestens ab etwa Beginn der sechziger Jahre setzte sie wieder auf normalem Niveau ein. Bereits bis zu den neunziger Jahren gab es einen kontinuierlichen Anstieg der Beschäftigung mit dem Thema, doch dann begann der regelrechte Boom, von dem Sie sprechen: Inzwischen hat das Thema Ahnenforschung die Massenmedien erreicht.

Wieso wuchs das Interesse plötzlich derart?

Lehsten: Der Grund ist wohl die Verbreitung privater Computer seit dieser Zeit, die - insbesondere in Verbindung mit dem Internet - eine große Hilfe und Erleichterung beim Einstieg in das Thema darstellen. Seitdem kann man schon von zu Hause aus erste Nachforschungen anstellen, ohne gleich Archive oder Zeitzeugen aufsuchen zu müssen, hilfreiche Informationen zum Vorgehen finden, mit Gleichgesinnten kommunizieren oder seine Ergebnisse öffentlich vorstellen.

Warum betreiben Menschen überhaupt Ahnenforschung?

Lehsten: Die Beschäftigung mit den Ahnen öffnet eine neue Dimension der eigenen Identität. Außerdem umgibt die Ahnen der Hauch des Geheimnisses. Besonders reizt es viele Leute, wenn es einen dunklen Punkt in ihrer Ahnenreihe gibt, den sie aufklären können. Das Geheimnis ist heute allgemein sehr angesagt: Alle möglichen Darstellungen der Geschichte, werden inzwischen über Formulierungen wie "Das Geheimnis der ..." publikumswirksam aufgezogen - auch in Museen und Archiven.

Laut einer Studie äußerten befragte Ahnenforscher zum Beispiel: "Ich möchte meine Vorfahren als Menschen kennenlernen" oder "Ich will wissen, wer ich bin".

Lehsten: In den meisten Kulturen wird die Familie gepflegt. Die Beschäftigung mit ihr scheint zum kulturellen Tiefencode menschlicher Zivilisation zu gehören.

Handelt es sich bei den Ahnenforschern tatsächlich um eher konservative Menschen?

Lehsten: Nicht ausschließlich, aber im Grunde ja. Konkrete politische oder weltanschauliche Auffassungen sind damit erfahrungsgemäß nicht verbunden, aber es sind ganz überwiegend Menschen mit dem Bewußtsein, etwas bewahren zu wollen.

Warum und wann entwickeln die Deutschen konkret Interesse für ihre Vorfahren? Gibt es eine Lebenssituation oder ein bestimmtes Alter, die typisch sind?

Lehsten: Es gibt zwar erstaunlich viele Jüngere, die sich mit Ahnenforschung beschäftigen, aber in der Tat sind es vor allem ältere Menschen. Viele haben das Gefühl, so etwas wie eine familiäre Stafette zu übergeben, und merken, daß sie selbst manches gar nicht wissen: Sie fangen an, Fragen zu stellen.

Was interessiert die Menschen besonders: Sind es eher die nahen Verwandten oder vor allem die fernsten Vorfahren?

Lehsten: Nahe Verwandte sind für viele Menschen interessant, weil sie entweder an diese noch eigenen Erinnerungen haben oder sie aus Erzählungen kennen. Zumindest aber hatten diese Menschen eine persönliche Beziehung zu Menschen, die sie selbst gekannt haben, wie den Eltern oder Großeltern. Die Suche nach den fernsten Vorfahren ist dagegen eine Marotte des genealogischen Interesses. Denn wenn ich meinen Vorfahren etwa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges ermittele, dann sagt mir das persönlich doch gar nichts: Zu diesen Menschen habe ich schließlich keinerlei Verbindung mehr. Dennoch verfolgen manche Menschen ihre Vorfahren bis zu Karl dem Großen oder gar zur Einwanderung der Germanen zurück. Je weiter zurück, desto besser!

Fragen nach den Urgroßeltern stellt jeder mal, und einen kleinen Stammbaum der letzten drei, vier Generationen kann man in der Kaffeepause zeichnen. Wann sprechen Sie ernsthaft von Ahnenforschung?

Lehsten: Ahnenforschung beginnt, wenn man sich ein Schema macht und Nachforschungen anstellt, um es auszufüllen. In der Schulklasse eines meiner Kinder teilte die Lehrerin unlängst ein Stammbaumschema aus, das bis zu den Großeltern reichte, mit der Hausaufgabe, es auszufüllen. Das ist im Grunde bereits Ahnenforschung.

Was raten Sie jemandem, der mit der Ahnenforschung beginnen will? Wie geht er vor?

Lehsten: Der erste Schritt ist, die eigenen Verwandten zu befragen, und zwar nicht nur nach deren Erinnerungen, sondern auch danach, ob vielleicht noch Quellen auf ihrem Dachboden lagern, wie Briefe, Urkunden oder Dokumente. Der nächste Schritt ist der Gang zum Standesamt, wo man ein Recht auf Mitteilung der Daten zu den eigenen direkten Vorfahren hat - aus Personendatenschutzgründen aber nicht auf die Daten der Verwandten. Danach sind Kirchenbücher meist die wichtigsten Quellen. Wichtig ist es aber auch, im Stadtarchiv oder den zuständigen Staatsarchiven zu suchen. Sehr empfehlen kann ich auch die Recherche vor Ort: Hinfahren, wo die Vorfahren gelebt haben, klingeln und nachfragen! Trifft man auf Zugezogene, die von nichts wissen, muß man weiterfragen: "Wo lebt hier jemand, der noch etwas wissen könnte?" - "Wer im Ort beschäftigt sich mit solchen Fragen?" - "Gibt es hier einen Heimatgeschichtsforscher?" Wenn man fachmännische Anleitung braucht, empfiehlt sich der Kauf eines Handbuchs, etwa das "Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung", oder die Recherche im Internet. Auch Genealogievereine oder Institute können weiterhelfen. An sie kann man sich wenden, wenn man aufgrund erster Nachforschungsergebnisse konkrete Fragen formulieren kann oder an einem sogenannten toten Punkt angelangt ist, also da, wo sich mit den üblichen Methoden keine Informationen mehr finden lassen, weil die Spur ins Dunkel der Geschichte führt.

Welche Hilfe bietet Ihr Institut an?

Lehsten: Das Institut für Personengeschichte ist das einzige historische Forschungsinstitut in Deutschland, das sich um die Familiengeschichtsforscher kümmert, deren Ergebnisse sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Das heißt, wir bringen Genealogen und Historiker, Laien und Profis zusammen. Wer als Laie unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchte, möge uns einen Brief schreiben oder persönlich vorbeikommen und den Lesesaal nutzen. Er kann den Stand seiner Ermittlungen darstellen und seine Fragen formulieren. Und um den entgegengesetzen Fall kümmern wir uns auch: Wer genealogische Dokumente auf seinem Dachboden findet oder geerbt hat, diese aber nicht erforschen, sondern loswerden möchte, der möge sie um Gottes willen bitte nicht wegwerfen, sondern sich an uns wenden!

In der Feudalzeit ging es vor allem um Legitimität. Darauf folgte die Epoche der bürgerlichen Ahnenforschung, zu der im Grunde noch die heutige zählt. Wie hat sich die Genealogie inhaltlich gewandelt?

Lehsten: Anders als der Adel, der seine Rechte durch die Abstammung legitimierte, rechtfertigte das Bürgertum seinen Stand über seinen wirtschaftlichen Erfolg. Abstammung hatte also keine direkte materielle Funktion mehr. Gleichwohl gehörte es zur Kultur des Bürgertums, dem eigenen Stand durch eine gewisse Nachahmung des Adels Würde zu verleihen: Familientradition spielte da eine wichtige Rolle. Allerdings sollte man auch nicht die Rolle der Familie beim Aufbau erfolgreicher bürgerlicher Handels- oder Industrieunternehmen unterschätzen. Insofern flankierte die Pflege der Familientradition natürlich das Funktionieren der Familie als Basis für wirtschaftlichen Erfolg. - Ganz allgemein hat ja die Familie für die bürgerliche Gesellschaft eine elementare Funktion. Entscheidend für das Entstehen des europäischen genealogischen Prinzips war die Frage der Erbberechtigung. Daraus resultiert überhaupt unser Verständnis von Verwandtschaft. Diese Grundfunktion war in der feudalen wie in der bürgerlichen Genealogie gleich.

Erstaunlicherweise finden sich in vielen kleinbürgerlichen Stammbäumen berühmte Persönlichkeiten: Folge manipulierender Ahnenforscher, um die eigene Herkunft zu veredeln?

Lehsten: Nein, oftmals sind solche Stammbäume korrekt. Wohl jeder heute lebende Mitteleuropäer stammt auf irgendwelchen Wegen von diesen Persönlichkeiten ab. Denn wir wissen, daß nur wenige Menschen - etwa um 1650 - die Vorfahren von uns allen heute sind. Die Nachkommenschaft der meisten Menschen erlischt. Offensichtlich unterscheiden sich die einzelnen Personen darin, ob sie einen bleibenden Nachkommenbestand haben oder nicht. Auch gesellschaftlich wurde die Möglichkeit der Fortpflanzung stark reglementiert: Nehmen Sie zum Beispiel das Gesinde, das in früheren Zeiten oft keine Heiratserlaubnis erhielt. Tatsächlich sind es die großen, erfolgreichen Familien, die sich zum Teil in ganz erstaunlichem Maße kaskadenartig ausgebreitet haben. Daher stammen die meisten Mitteleuropäer selbstverständlich von denen ab, die sich in ihrer Zeit auch politisch und wirtschaftlich durchsetzen konnten.

Genealogie kennt man in allen Kulturen, dennoch funktioniert sie in anderen Weltgegenden nach anderen Prinzipien. Unser wissenschaftlicher Ansatz dürfte im Rest der Welt als sinnlose, unverständliche Schrulle betrachtet werden.

Lehsten: In der Tat, für die meisten Kulturen ist die Frage irrelevant, wer nun mein "wissenschaftlich" korrekter, das heißt für die heutigen Forscher meist "biologischer" oder "genetischer" Vorfahr ist. Sie betreiben, wie wir Europäer übrigens lange auch, Genealogie als historische Denkform, als Vergewisserung des eigenen Selbstverständnisses, gar unter mythologischen Gesichtspunkten. Denken Sie an die Römer, die weniger daran interessiert waren, woher sie tatsächlich kamen, als sich als die letzten Trojaner zu betrachten, die dem Untergang der Stadt knapp entgangen waren. Es gibt sogar Kulturen, deren Verständnis von Familienverbindung so anders ist, daß man es mit unseren Sprachmöglichkeiten nicht ausdrücken kann. Zum Beispiel pflegen einige Indianerstämme in Nordamerika ein Ahnenverständnis, bei dem weder der Vater noch notwendig die biologische Mutter, sondern die Stellung der Stammesmutter entscheidend ist. Im Detail bleibt das für unser Denken sehr schwer nachzuvollziehen.

Was ist für die Zukunft der Ahnenforschung zu erwarten?

Lehsten: Im Grunde ist auch unsere "wissenschaftlich"-biologische Ahnenforschung ebenso dem Zeitgeist verpflichtet wie die mythologische anderer Kulturen. Dort wie hier geht es um eine ideelle Legitimation von Familie und Abstammung, dort nach mythologischen, hier nach "wissenschaftlichen" Gesichtspunkten. Die Verengung auf die genetische Frage wird sicher mit fortschreitender Kenntnis der Genetik überwunden werden. Moderne Familien funktionieren vermutlich auch nicht mehr nach der Blutlinie. Lebensabschnittspartner, Patchwork-Familien, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, etc. haben vielfach zum Ende der traditionellen Familie geführt. Heutige Familien und genealogische Konstellationen sind mit dem klassischen Instrumentarium der Genealogie nicht mehr vollständig zu erfassen. Wenn ich aus einer Patchwork-Familie komme, dann ist doch die soziale Komponente viel aussagekräftiger als die blutsmäßige, die in solchen Familien ihren Sinn stark einbebüßt hat. Die Genetik wird also wohl in Zukunft zugunsten der Beachtung sozialer Gesichtspunkte wieder zurücktreten.

Wenn man Ahnenforschung als Suche nach Identität begreift, wäre diese Entwicklung dann nicht ein Indiz für die fortschreitende Identitätskrise unserer Gesellschaft?

Lehsten: Neue Notwendigkeiten der Identitätsvergewisserung sind auch schon durch andere gesellschaftliche Faktoren, etwa die Migration gegeben. Vermutlich wird der Prozeß der Ersetzung kollektiver durch individuelle Identitätsfindung weiter voranschreiten. So wie sich die Aufmerksamkeit der Genealogie von der Sippe zur Familie verschoben hat, verschiebt sie sich nun weiter von der Familie zum Einzelnen. Damit spiegelt sie die Entwicklung in der Gesellschaft. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine politische Frage. Für uns entscheidend ist, daß sich das Interesse an der Ahnenforschung zwar wandeln, aber wohl nicht verringern wird. Stets wird der Einzelne bei der Frage nach seiner Herkunft wieder auf die größeren Zusammenhänge verwiesen sein. Moritz Schwarz

 

Dr. Lupold von Lehsten: Der Historiker ist stellvertretender Leiter des Instituts für Personengeschichte in Bensheim, Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände (DAGV) und Herausgeber der Zeitschrift Archiv für Familiengeschichtsforschung. Geboren wurde er 1961 in Wolfsburg.

 

Institut für Personengeschichte: Das nahe Frankfurt/Main gelegene und 1993 aus einer seit 1967 bestehenden Sammlung neugegründete Institut sammelt, dokumentiert und erforscht wichtige Nachlässe der genealogischen Forschung aus dem deutschsprachigen Raum. Es leistet sowohl Fachleuten wie Laien wissenschaftliche Hilfestellung. Kontakt: Hauptstraße 65, 64625 Bensheim, Telefon: 0 62 51 / 6 22 11, Internet: www.personen-geschichte.de 

Deutsche Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände: Bietet eine Übersicht und Kontaktdaten der wichtigsten deutschen genealogischen Einrichtungen. Der 1949 als DAGV neugegründete Dachverband hat derzeit 58 Mitgliedsverbände. Kontakt: Postfach 60 05 18, 14405 Potsdam, Telefon: 0 36 41 / 82 37 72, Internet: www.genealogienetz.de 

Stichwort "Ahnenforschung": In Deutschland betreiben schätzungsweise 100.000 Menschen Ahnenforschung, rund 30.000 sind in Vereinen organisiert. Wichtigstes Hilfsmittel für die quasi-professionelle Arbeit ist das mittlerweile in 13. Auflage erschienene "Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung" (Degener, 2006). Zum Einstieg empfiehlt sich ein Ratgeber wie "Familienforschung leicht gemacht. Anleitungen, Methoden, Tipps" (Piper, 2006)


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen