© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Outdoor-Therapie oder Erlebnispädagogik: Der Umgang mit Problemjugendlichen
Drill fernab der Realität
Carsten Krystofiak

Kinder sind ein großes Glück. Jedenfalls, bis sie in die Pubertät kommen. Dann verwandeln sich einige in asoziale Kotzbrocken. So wie diese Sprößlinge aus Herne: Daniel, 14. Ging nicht mehr zur Schule, weil er glaubte, ein Genie zu sein, das alles weiß. Terrorisierte und bedrohte seine Eltern. Oder Vanessa, 17. Ihr einziges Hobby: Komasaufen. Bis die Eltern sich nicht mehr zu helfen wußten. Doch Hilfe kam - von RTL! Der Privatsender schickte die Kids in die amerikanische Wüste zu Annegret Noble. Die resolute Therapeutin mit dem Cowboyhut sollte den renitenten Teenies die Hosen strammziehen - und zwar live und zur besten Sendezeit! Die Unterschicht-Zielgruppe jubelt immer noch: Endlich wird wieder hart durchgegriffen - wenn auch nicht in deutschen Familien, aber wenigstens im deutschen Fernsehen.

Nötig wäre eine Hilfe für die ganze Familie

Und RTL hat ebenfalls Grund zum Jubeln: Durchschnittlich vier Millionen Zuschauer sahen die Folgen von "Teenager außer Kontrolle - letzter Ausweg Wilder Westen", 21 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49jährigen, auf gleicher Quotenhöhe mit der ARD, die private Konkurrenz abgehängt! Beifall in den Foren der Online-Fernsehzeitungen: "Ich find die Sendung super, ich denke, man kann dadurch wirklich Teenager zur Vernunft bringen." Fachliches Fazit: "Erziehung hin oder her, ein paar von den alten Methoden sollte man schon noch anwenden."

Der Drehort "Turn About Ranch" in Utah ist ein Erziehungscamp der Aspen Education Group, seit 25 Jahren Weltmarktführer in der "Outdoor-Therapie". Pro Jahr werden hier bis zu dreitausend verhaltensgestörte Jugendliche behandelt: wegen Aggressivität bis Vandalismus. Und die Pädagogen ziehen harte Saiten auf. Für die 13- bis 18jährigen eine echte Zumutung: Viele lernen hier erstmals, daß der Stundenzeiger zweimal am Tag auf acht steht. Auch RTL-Probandin Vanessa maulte: "Voll heftig hier! Das ist kein Zuckerschlecken!"

Zweck der ungewohnten Erfahrung in rauher Wildnis: Die Jugendlichen sollen das versäumte Erlernen ganz normaler menschlicher Fähigkeiten nachholen - Rücksicht, Gemeinschaftssinn, Verständigung, Verantwortung, Leistungsbereitschaft. Laut Eigenwerbung sind die Erzieher dabei in 80 Prozent aller Fälle erfolgreich. Schon der deutsche Reformpädagoge Kurt Hahn (1886-1974) sagte: "Die Natur ist die größte Lehrmeisterin."

Auf die von Kurt Hahn begründete Erlebnispädagogik stützt sich auch die Deutsche Gesellschaft für Europäische Erziehung Outward Bound e.V. (DGEE) mit Zentrale in Schwangau/Allgäu. Das weltweit tätige Bildungswerk wird vom Bundesministerium für Familien unterstützt. Die Trainer arbeiten mit (Problem-) Schülern, aber auch mit Manager-Nachwuchs der Deutschen Bahn AG. Das Bildungswerk sieht seine Aufgabe in einer ganzheitlichen Erziehung zur Demokratie.

Doch bekommt Outward Bound dafür nicht soviel Aufmerksamkeit wie die Drill-Show bei RTL. Vermutlich weil "Erlebnispädagogik" nicht so brutal klingt wie "Outdoor-Therapie". Trotzdem hatte RTL 2006 zunächst bei Outward Bound angefragt, um das US-TV-Format "Brat Camp" (zu deutsch: "Görenlager") zu kopieren.

Doch Geschäftsführer Jus Henseleit erteilte RTL eine Abfuhr: "Für uns kam eine Beteiligung nicht in Frage. Militärischer Drill mit dem Ziel der Unterwerfung steht in krassem Gegensatz zu unseren Werten." Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT erklärt Henseleit: "Eine Gemeinschaft funktioniert nur im Rahmen von Regeln. Bei der Expedition in die Natur schaffen wir mit den Jugendlichen eine Laborsituation, um Regeln zu üben. Es gibt Aufgaben, Hilfen und Konsequenzen - wie im richtigen Leben. Was in der RTL-Serie passiert, ist dagegen dilettantisch: Wenn es für die Pädagogin eng wird, kommt der Cowboy und bestraft; das ist keine Alternative zum Gesetz des Stärkeren auf der Straße."

Outward Bound bestand gegenüber RTL auf einer gesicherten Nachbetreuung durch zuständige Jugendämter. Das war dem Sender natürlich zu umständlich. Henseleit dazu: "Ich kann in acht Wochen keine komplette Verhaltensänderung erwarten. Da gibt es offenbar prinzipielle Unterschiede zwischen deutschem und US-amerikanischem Therapieverständnis. Wann wird die 'Heilung' festgestellt? Am Tag der Entlassung? Was bringt es, an Jugendlichen herumzutherapieren, die danach wieder in ihre kaputten Familien und Cliquen kommen? Nötig wäre eine Hilfe für die ganze Familie!" Und gerade hier sei der Bedarf groß. "Wir erleben bei unserer Arbeit ein zunehmendes Versagen der Eltern bei der Erziehung. Zum Beispiel bei der Bewegung, durch Eltern, die ihre Kinder ständig mit dem Auto zur Schule chauffieren. Oder bei der Ernährung, weil die Eltern nicht mehr kochen können und nur noch Fertiggerichte auf den Tisch kommen. Oder beim Erleben von kleinen Abenteuern, die nur noch virtuell stattfinden. Kinder müssen sich ihre Umwelt selbst erschließen. Das muß man fördern - und auch von ihnen fordern."

Immerhin: Aktuell habe auch Pro 7 bei Henseleit angeklopft, um Möglichkeiten eines Sendekonzeptes zu sondieren ... 


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