© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

Den Spaltern die Leviten gelesen
Der Publizist Richard Schröder und seine Analyse über Irrtümer, Klischees und Fehlinterpretationen des deutschen Einigungsprozesses
Detlef Kühn

Richard Schröder gehört zu den wirkungsmächtigsten Publizisten im wiedervereinigten Deutschland. Der gelernte Theologe aus den kirchlichen Bildungsstätten der DDR schloß sich 1989 wie viele andere Pfarrer der Bürgerrechtsbewegung an, wurde 1989 Mitglied der SDP, bei der Volkskammerwahl vom März 1990 Abgeordneter der SPD und später Vorsitzender ihrer Fraktion. Bis 1994 gehörte er dem Bundestag an. An der Humboldt-Universität in Berlin hat er einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie inne. Neben weiteren Ämtern ist er Verfassungsrichter im Land Brandenburg und beteiligt sich immer wieder in Büchern, Aufsätzen und Vorträgen an Diskussionen im heutigen Deutschland, dessen Einheit er bewußt mit herbeigeführt hat.

So ist Schröder sicherlich der richtige Mann, "die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit" zu behandeln. Es fehlt auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht an nörgelnden oder geschichtsklitternden Behauptungen über dieses Jahrhundertereignis. Mit einigen der Kritiker, denen von Anfang an die ganze Richtung hin zur Einheit nicht paßte oder die den Prozeß wenigstens nachträglich für gescheitert erklären wollen, setzt sich Schröder auseinander. Zu ihnen gehören der immer hochmoralisch argumentierende Nobelpreisträger Günter Grass, der Fernsehschaffende Wolfgang Herles, der es sich offenbar leisten kann, bei seiner antideutschen Einstellung auf Fakten keine Rücksicht zu nehmen, und andere Autoren mit ähnlichen Defekten.

Schröder hat die wichtigsten Fragen aufgeteilt: "Irrtümer über die DDR", "Irrtümer über die Vereinigung" und "Irrtümer über das vereinigte Deutschland". So kann er alle gängigen Vorurteile und Klischees behandeln, aber auch vorsätzlich falsche Behauptungen nicht nur richtigstellen, sondern regelrecht entlarven. Dabei bringt er oft seine eigenen Erfahrungen als "gelernter DDR-Bürger" ein, was seiner Autorität gegenüber den Ressentiments gewisser Ost-Nostalgiker zugute kommt. Andererseits weiß er auch über die Entwicklungen vor 1989 in Westdeutschland genug, um die Kritik der Vereinigungsgegner im Westen als das bewerten zu können, was sie ist: Zeugnisse des antideutschen Selbsthasses, der allerdings meist zu Lasten der Deutschen im Osten geht.

Schröders Ausführungen sind meist kurz, prägnant, faktengestützt und fast immer so formuliert, daß man als Leser nur sagen möchte: "Ja, so ist es!" Wenn er sich mit der Behauptung auseinandersetzt, der Osten sei rechtsextrem und ausländerfeindlich, kommt er in Konflikt mit den Gralshütern der Political Correctness: "Angst vor Überfremdung ist als solche (...) noch kein Rechtsextremismus", oder "wer behauptet, bei Ausländern sei die Kriminalitätsrate höher, ist deshalb noch kein Rechtsextremist. Für die Jugendkriminalität weist das nämlich die Berliner Kriminalitätsstatistik tatsächlich aus."

Mit besonderem Interesse muß man Schröders Ausführungen zu der Behauptung lesen: "Es ist ein Skandal, daß es keine ausgearbeiteten Pläne für die deutsche Einheit gab." Er hat recht mit dem Hinweis, solche Pläne wären in Bonn natürlich nicht geheim geblieben, sondern hätten denjenigen im Osten Auftrieb gegeben, die schon immer gesagt haben, dem Westen dürfe man nicht trauen. Nur: Dieses Argument war nicht das entscheidende. In der politischen Klasse der Bonner Republik hörte man überall den ängstlichen Ruf: "Wir wollen doch die DDR nicht destabilisieren." Eine doppelte Verneinung ist bekanntlich eine Bejahung. Man wollte die DDR stabilisieren und hat das auch bis Ende 1989 - so gut es ging und mit viel Geld - versucht, Gott sei Dank ohne Erfolg, weil die Menschen in der DDR das einfach nicht wollten.

Was Schröder an anderer Stelle dazu zu sagen hat, gehört zu den eindrücklichsten Passagen seines Buches. Widersprechen muß man ihm nur, wenn er die Entscheidung der Volkskammer von 1990 verteidigt, die Enteignungen in der SBZ nicht rückgängig zu machen. Daß er sich dabei nicht mehr hinter der sowjetischen Führung verstecken kann, hat Gorbatschow später klargestellt. Schröder wirft ihm vor, "Nebel" zu werfen. Dabei geht es heute nur noch darum, ob die Bundesrepublik als Staat sich weiterhin an den noch in ihrem Besitz befindlichen Vermögenswerten bereichern darf. Eine politische Lösung, die das zerstörte Rechtsgefühl wenigstens teilweise reparieren würde, würde sicherlich nicht an Putins Widerspruch scheitern.

Ansonsten erweist sich Richard Schröder als Gesamtdeutscher, der nicht duldet, daß die Verächter der Einheit, wo immer sie sitzen, die Westdeutschen gegen die Mitteldeutschen und umgekehrt aufhetzen. Er leugnet nicht, daß das vereinte Deutschland große Defizite und riesige Probleme hat. Sie haben aber immer weniger mit der Teilung zu tun, sondern müssen jetzt von allen Deutschen gemeinsam angegangen werden. Die "Irrtümer" auszuräumen, wie Richard Schröder es tut, könnte diesen Prozeß erleichtern.

Richard Schröder: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit. Herder Verlag, Freiburg 2007, broschiert, 254 Seiten, 16,90 Euro

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.

Foto: Feier zur Wiedervereinigung am 2. Oktober 1990: Keine ausgearbeiteten Pläne zur Einheit


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